Kulturelle Landpartie als Ausdruck regionaler Tradierung, Zugehörigkeit und Inszenierung

1 Beschreibung der Initiative

„Wunderpunkte im Wendland“ – so wirbt das größte selbstorganisierte Kulturfestival Norddeutschlands für sich. Jedes Jahr seit 1989 verwandelt sich das Wendland zwischen Himmelfahrt und Pfingsten in einen Ort der Begegnung und des Austauschs zwischen Künstlerinnen und Künstlern, Handwerkerinnen und Handwerkern, (Kultur-)Initiativen, Kunstinteressierten, Anwohnerinnen und Anwohnern sowie Besuchenden. Die Kulturelle Landpartie (KLP) hat ihre Wurzeln in der Antiatomkraftbewegung, im politischen Widerstand gegen das Atommülllager Gorleben. Die Menschen im Landkreis Lüchow-Dannenberg verbündeten sich, um zu signalisieren: Es gibt nicht nur ein Dagegen, sondern vielmehr ein Dafür, für ein positives Leben im Wendland. Dazu schlossen sich ganze Dörfer und kunstschaffende Anwohner*innen zusammen, nutzten Kontakte und private Netzwerke, um abseits von den Straßenprotesten den Öffentlichkeitsfokus auf die Natur- und Kulturlandschaft des Wendlands zu lenken. Die Idee dahinter ist: die regional-kulturelle Vielfalt und Einzigartigkeit im gemeinsamen Streben sichtbar machen sowie die Erhaltung und Förderung der Regionalkultur sicherstellen. Die KLP als Ausdruck wendländischer Kultur ist das wichtigste kulturelle Ereignis der Region, zum einen als bedeutsamer wirtschaftlicher Faktor, aber zum anderen auch als ein Zeichen des Widerstands und des solidarisch-zivilgesellschaftlichen Engagements.

2 Was umfasst das Angebot der Kulturellen Bildung?

Kern des Bildungsangebots der KLP sind die Zugänglichkeit für alle und niedrigschwellige Kulturangebote, bei denen sich jedes Individuum aktiv einbringen kann. Angeboten werden dabei Veranstaltungen aus unterschiedlichen Themenbereichen, u. a.

  • Lesungen/Vorträge/Texte
  • Ökologie/Politik
  • Musik/Konzert
  • Instrument/Klangkunst
  • Theater/Kabarett/Performance/Tanz/Spiele
  • Skulptur/Installation
  • Gesundheit
  • Schmuck
  • Textil/Filz/Leder
  • Holz/Weidenflechterei
  • Metall
  • Keramik/Glas
  • Grafik/Illustration/Medien
  • Malerei/Zeichnung
  • Haus/Garten/Lebensart/Kulinarisches.

3 Wer wird adressiert?

Zehntausende Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet nehmen jährlich an der KLP teil, darunter eine Vielzahl an Touristinnen und Touristen. Angesprochen wird aber ein vielfältiges Publikum: junge Familien, Kunst- und Kulturinteressierte, Atomkraftgegner*innen, Menschen aus Großstädten und Freundinnen und Freunde der KLP auf der Suche nach Gleichgesinnten.

Besuchende können (Handwerks-)Kunst, Theater, Musik, Mitmachaktionen und Performancekunst an ungewöhnlichen Orten erleben, abseits von klassischen Stätten Kultureller Bildung, mitten im und aus dem Leben der Wendländer*innen. Die Gestalter*innen der KLP können so ihre Visionen einer agilen Verbindung zwischen kulturellem und politischem Leben mit einem breiten Publikum teilen und damit möglichst viele Menschen erreichen.

4 Wer sind die Akteurinnen bzw. Akteure und welche Besonderheiten gibt es?

Die Akteurinnen und Akteure sind Atomkraftgegner*innen, die sich als „kreativer Arm“ von Bürgerinitiativen und Vereinen verstehen. Aber erst in Kooperation mit zahlreichen Individualistinnen und Individualisten bzw. Einzelakteurinnen und -akteuren wurde die KLP zum erfolgreichen Open-Air-Kulturfestival. Dabei kommen viele Akteurinnen und Akteure aus der direkten Umgebung, sind Einheimische. Doch auch vermehrt Personen aus umliegenden Regionen oder Städten schließen sich dem Kulturevent an, um gemeinsam die politisch motivierten Interessen nach außen zu vertreten. Kulturschaffende, politische und ökologische Initiativen stellen sich und ihr Leben vor, ihren kreativen Alltag im Zusammenwirken von Gemeinschaft, Kunst und Protest. Kulturelles Leben, Bildung, Begegnungen, Wohnen, Gesundheit, alternatives Wirtschaften und Nachhaltigkeit sind dabei zentrale Themen von Projekten und Angeboten. Neben Lesungen, Darbietungen und politischen Gesprächsrunden verkaufen Künstler*innen Kulturgüter, die ausschließlich in den Dörfern gestaltet und gefertigt werden, meist im Rahmen kleiner Ausstellungen in ihren Höfen, Ateliers oder Werkstätten.

Im Unterschied zu anderen Märkten, auf denen Gegenstände des Kunsthandwerks angeboten werden, zeigt sich die KLP politisch motiviert und basisdemokratisch organisiert. Eine besondere Art von zivilgesellschaftlichem Widerstand wird sichtbar, da Kunst- und Kulturschaffende durch ihr Wirken, ihre Werke und ihre Aktionen zu Denkanstößen in Umweltbelangen anregen, statt vorrangig auf klassische Formen des Protests, wie beispielsweise Demonstrationen, zurückzugreifen.

5 Welche Auslegung von Ländlichkeit wird sichtbar?

Die KLP inszeniert Ländlichkeit und Regionalität auf eine ganz besondere Weise: Ein Kunst- und Kulturevent wird dazu genutzt, die Lebensverhältnisse und -entwürfe sowie Denkweisen der Menschen im Wendland zu präsentieren, während gleichzeitig ein klares politisches Statement für positiven Umweltaktivismus gesetzt wird. Gemeinschaft, Verbundenheit zur lokalen Kultur und zu Traditionen gehören dazu – in einem dynamischen Miteinander des kreativen Austauschs zwischen Anwohnerinnen und Anwohnern, Besuchenden und Kulturinteressierten. Das alles sind Aspekte, die die Attraktivität und die Potenziale dieser Region ausmachen. Zwischen Natur, Kunst, Kultur und Widerstand zeigt sich Ländlichkeit hier als ein Ausdruck der gemeinschaftlich gelebten Individualität im Zuge regionalspezifischer Gegebenheiten und politischer Protestbewegung.

Ländlichkeit wird dabei als positives Lebensgefühl in Szene gesetzt, als ein authentisches Landleben mit pittoresken Orten, Fachwerkhäusern und Rundlingsdörfern, das Anreize für ein attraktives Leben auf dem Land erzeugt sowie offene Wirkungs- und Möglichkeitsräume für die Menschen und die Kulturelle Bildung eröffnet.

6 Auf welche Herausforderungen muss reagiert werden?

Der Bekanntheitsgrad der KLP steigt von Jahr zu Jahr, was für die Sichtbarmachung des Wendlands als bedeutender Kulturort Niedersachsens absolut wünschenswert ist. Doch bringt das übermäßige touristische Aufkommen auch die dortige Infrastruktur an ihre Grenzen: Erhöhtes Verkehrsaufkommen, zu wenig Übernachtungsmöglichkeiten und ein überlastetes Gastgewerbe stellen zunehmend eine Belastung dar. Gerade mit Blick auf Nachhaltigkeit und Naturschutz bedarf es hier beispielsweise der Verkehrsoptimierung und des Ausbaus des Campingangebots als notwendige Maßnahmen, um dem stetigen Wachstum des Kulturevents unter ökologischen Gesichtspunkten gerecht zu werden.

7 Welche Chancen für ländliche Regionen werden sichtbar?

Kunst aus dem Wendland von Künstlerinnen und Künstlern aus dem Wendland, damit lockt das über die Grenzen des Landkreises Lüchow-Dannenberg hinaus bekannte Kulturevent Interessierte in die Region, die sich so ein ganz individuelles Bild der Kulturlandschaft machen können. Lokale Besonderheiten der Region werden durch die mannigfaltige Auswahl an Kulturangeboten, durch die spezielle Atmosphäre und aufgrund der Authentizität der Veranstaltung sichtbar. Dieses Event macht die Stärke von Gemeinschaft deutlich und zeigt zudem auf, welchen Stellenwert Zusammenhalt, Kreativität und das Gefühl von Zugehörigkeit für die (kulturelle) Entwicklung einer ländlich-peripheren Region besitzen.

Das Wendland gilt dabei als Modellregion für eine umweltbewusste Entwicklung des ländlichen Raums, wenn es um die Gestaltung einer ökologisch geprägten Gegenwartskultur geht: Möglichkeiten zu nachhaltiger Energiegewinnung und biologischer Landwirtschaft, regionale Vernetzung, alternative Lebensgestaltung in der Gemeinschaft und kreative Freiräume, die hier als Arbeitsräume für Kunst- und Kulturschaffende entstehen. Diese künstlerisch-kulturellen Freiräume ermöglichen die Erprobung von neuen Bildungs- und Kulturformaten, bieten Orte zum Experimentieren und sind Anstoß für gesellschaftliche Transformationsprozesse, die sich beispielsweise mit kultureller Teilhabe oder Digitalisierungsprozessen beschäftigen.

8 Welchen Mehrwert hat die KLP für die Kulturelle Erwachsenenbildung in der Region?

Die KLP legt den Betrachtungsfokus auf aktuelle und gesellschaftlich relevante Themen wie Umweltschutz, Antiatomkraftbewegung und Lebensformen mit regionaler Besonderheit (z. B. solidarische Landwirtschaft, alternative Wohnkonzepte wie Mehrgenerationenhäuser). Daraus ergeben sich vielfältige Potenziale zur Ausgestaltung der Angebote, die über die klassisch hochkulturelle Ausrichtung der Bildungsgelegenheiten hinausgeht. Auch lassen sich unterschiedliche Zielgruppen ansprechen, wodurch die gesellschaftliche Teilhabe an Kultureller Bildung erhöht werden kann. Die KLP bietet einen kreativen Begegnungsraum des kulturellen und sozialen Austauschs zwischen Besuchenden und Bewohnerinnen und Bewohnern, wodurch ein Sammelbecken für Menschen entsteht, die auf der Suche nach Inspiration, Authentizität und Gemeinschaftsgefühl sind. Im Zuge der KLP erfährt die Region eine öffentlichkeitswirksame Stärkung der kulturellen (Bildungs-)Angebote und ihrer Akteurinnen und Akteure, die zu einer Aufwertung der ländlichen Kulturlandschaft führt und sie als Alleinstellungsmerkmal dieser Region deklariert. Besonders spannend ist dabei, dass die KLP als eine lokale Aktivität regional ausstrahlt und letztendlich auf bundesweiter Ebene Interesse weckt und Anklang findet.

Da es sich hierbei um ein Porträt der KLP handelt, das auf einer umfangreichen Onlinerecherche basiert, ist es nicht möglich, Innenperspektiven abzubilden. Als offene Fragen verbleiben dabei z. B., welchen Stellenwert dieses Kulturevent bei den Anwohnerinnen und Anwohnern besitzt, inwiefern die KLP die Gestaltung der Gesamtregion beeinflusst sowie ob und welche Schnittstellen zu anderen (Kultur-)Institutionen vorliegen.

Autorin

Jessica Preuß, M. A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung, Leibniz Universität Hannover

Review

Dieser Beitrag wurde nach der qualitativen Prüfung durch die Redaktionskonferenz am 25.08.2022  zur Veröffentlichung angenommen.

This article was accepted for publication following the editorial meeting on the 25th August 2022.


Es handelt sich um ein Porträt über die Kulturelle Landpartie auf der Grundlage eigener Recherchen.

This is a portrait of the Kulturelle Landpartie based on our own research.