1 Einleitung
Die Frage nach Regionalität, Ländlichkeit und Raum beschäftigt die Erwachsenenbildung bereits seit einiger Zeit. Spätestens nach dem spatial turn der Sozialwissenschaften gewinnen diese Kategorien auch in der Erziehungswissenschaft und der Erwachsenenbildung an Bedeutung (vgl. Bernhard et al. 2015; Nugel 2016). In der empirischen Forschung werden im Hinblick auf den ländlichen Raum vorwiegend regionale Differenzierungen im Weiterbildungsangebot und im Weiterbildungsverhalten herausgearbeitet (vgl. Martin et al. 2015; Weishaupt 2018). Dabei wird mitunter auch deutlich, dass der Bereich der allgemeinen Erwachsenenbildung in städtischen Gebieten stärker ausgebaut ist als in ruralen Regionen, zudem scheinen ländliche Regionen stärker mit demografischen und strukturellen Herausforderungen konfrontiert zu sein (vgl. Klemm 2015). Dem „ländlichen Raum“ wird zudem in entsprechenden Diskussionen der Erwachsenenbildung – zumindest konzeptionell – eine relative Besonderheit zugeschrieben. Diese äußere sich beispielsweise in einer intensiven Form des sozialen Zusammenlebens, spezifischen traditionellen Wertvorstellungen und einer Nähe zur Landschaft (vgl. Faber 1989; Ritchey 2008), zudem gibt es auch Hinweise auf ländlich geprägte Lehr- und Lernkulturen (vgl. Franz 2016).
Diese relative Besonderheit wurde bislang kaum empirisch in den Blick genommen. Schließlich stellt sich hier die Frage, ob und wie sich eine ländliche Besonderheit im Kontext non-formaler oder informeller Bildungsangebote für Lehrende und Lernende bemerkbar macht. Insbesondere die wiederkehrenden Hinweise auf potenzielle intensivere Formen des sozialen Zusammenlebens lenken den Blick auf informelle Lernprozesse in sozialen Gemeinschaften, wie Familien, Vereine oder Nachbarschaften, in denen – zumindest potenziell – alltagskulturelle Wissensbestände, Erfahrungen und Fertigkeiten ausgetauscht und intergenerationell weitergeben werden (vgl. z. B. Brake & Kunze 2004). Bei diesen Formen des intergenerationellen Lernens handelt es sich um Praktiken, die im alltäglichen Leben – meist en passant – zwischen Generationen ausgetauscht werden, wie beispielsweise Aktivitäten im Bereich der Küche oder des Handwerks, bei der Feuerwehr oder im Gartenbau. Zudem fallen darunter auch beiläufig erworbene Kenntnisse, z. B. über die Geschichte der Familie, des lokalen Ortes oder bestimmtes Brauchtum. Darüber, wie solche alltagskulturellen Praktiken und Wissensbestände in informellen Lernprozessen in ländlichen Räumen zwischen Generationen ausgetauscht werden, ist allerdings bislang nur wenig bekannt. Vor diesem Hintergrund verfolgen wir mit unserem Beitrag die Frage, welche Formen informeller Tradierung in intergenerationellen Gruppen ländlicher Räume sichtbar werden und wie diese Formen ggf. auch durch non-formale Angebotsstrukturen der Erwachsenenbildung unterstützt werden können. Mit jenen Formen des informellen Tradierens fokussieren wir, auf welche unterschiedliche Art und Weise alltagskulturelle Wissensbestände zwischen jüngeren und älteren Menschen informell weitergegeben werden. Damit ist auf die Ausgestaltung des intergenerationellen Lernprozesses verwiesen, der sich nicht auf die lineare Weitergabe von Traditionen und Bräuchen von der älteren auf die jüngeren Generationen beschränkt, sondern als wechselseitiger Prozess verstanden wird (vgl. Benner 2014), der Bezüge des Miteinander-, Voneinander- und Übereinanderlernens umfasst (vgl. Franz et al. 2009).
Dazu wird zunächst das methodische Vorgehen der Studie vorgestellt (2), bevor die ersten Erkenntnisse zu Mustern der informellen Tradierung anhand von Ausschnitten aus dem empirischen Material dargelegt werden (3). Der Beitrag schließt mit Überlegungen zu Anschlussmöglichkeiten an die non-formale Erwachsenenbildung auf dem Land (4).
2 Methodisches Vorgehen
Die Frage nach informellen Lernprozessen in intergenerationellen Gruppen wird im Rahmen des Teilprojekts „Intergenerationelle Tradierungsprozesse von Formen kultureller Bildung“ (ITkuBi) innerhalb des Gesamtprojekts „Tradierung – Vergewisserung – Doing Identity. Eine empirische Analyse kultureller Bildungs- und Handlungspraxen in peripheren Räumen“ (TraVI)1 bearbeitet. Zur Analyse impliziter Tradierungs- und informeller Lernprozesse wurde ein qualitativ-rekonstruktives Forschungsdesign entwickelt.
Im Rahmen der Datenerhebung wurden Gruppendiskussionen mit intergenerationellen Realgruppen in zwei ländlich peripheren Gemeinden durchgeführt (vgl. Loos & Schäffer 2001). Bislang besteht das Sample aus drei intensiven Gruppendiskussionen (Dauer: elf Stunden) mit Mitgliedern unterschiedlicher Vereine, in denen teilweise auch verschiedene Familienmitglieder mitgewirkt haben:
- An der ersten Gruppendiskussion (GD_1) nahmen sieben Personen im Alter von 30 bis 70 Jahren teil, die sich als Vorstandsmitglieder in unterschiedlichen Vereinen engagieren und von der Bürgermeisterin zusammengestellt wurde (z. B. Musik, Gartenbau, Feuerwehr, Kindergarten, Sport, Schützen etc.).
- An der zweiten Gruppendiskussion (GD_2) beteiligten sich vier Personen, die zwischen 50 und 75 Jahre alt sind und sich in unterschiedlichen Kontexten engagieren (z. B. Kirche, Lokalpolitik). Die Gruppe wurde durch zwei Personen zusammengestellt, die als Vereinsvorsitzende eines natur- und eines sportbezogenen Vereins aktiv sind.
- Schließlich waren bei der dritten Gruppendiskussion (GD_3) fünf Personen dabei, die zwischen 21 und 70 Jahre alt und in einer lokalen Musikkapelle engagiert sind.
Zusätzlich wurde ein narratives Interview mit einem Ortsheimatpfleger geführt. Ortsheimatpfleger sind ehrenamtlich tätig, aber offiziell über die Kommune in ihr Amt bestellt. Ihre Aufgabe ist die Pflege des lokalen geschichtlichen Wissens, beispielsweise durch die Organisation von Ausstellungen oder die schriftliche Dokumentation von Traditionen und der Entwicklung des Ortes.
Da die Tradierung und Aushandlung von informellem kulturellem Wissen implizit und beiläufig erfolgt und dieses Wissen den Personen in der Regel nicht explizit zugänglich ist, werden die Daten mithilfe der dokumentarischen Methode ausgewertet (vgl. Bohnsack et al. 2007; Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014), mit der es möglich wird, anhand der Analyse der Art und Weise, wie über spezifische Themen gesprochen wird, zu rekonstruieren, welche impliziten Handlungsorientierungen in den Gruppen vorliegen.
In den formulierenden und reflektierenden Interpretationsschritten, die in Interpretationsgruppen intersubjektiv abgesichert werden, deutet sich bislang an, dass die Weitergabe von kulturellem Wissen zwischen verschiedenen Generationen im ländlichen Raum drei idealtypischen Mustern folgt. Gleichzeitig weist das Datenmaterial darauf hin, dass in allen Gruppen Herausforderungen in der intergenerationellen Aushandlung und Weitergabe des Wissens – vor allem durch die älteren Gruppenmitglieder – thematisiert werden.
3 Muster der informellen Wissensweitergabe: erste Erkenntnisse
In der bisherigen Auswertung der Gruppendiskussionen erscheint zunächst interessant, dass alle Gruppen ein idealtypisches Bild des „idyllischen Landlebens“ explizit thematisieren und in Differenz zum vermeintlich anonymen und unpersönlichen Stadtleben setzen. Dabei werden der gute soziale Zusammenhalt (GD_1, GD_2) oder die Nähe zur Natur (GD_3) in den Mittelpunkt gerückt. Es deutet sich weiter an, dass die Weitergabe und Aushandlung von kulturellem und lokalem Wissen auf drei verschiedene Arten konzeptioniert wird. Gleichzeitig werden in diesen Mustern auch die jeweiligen Schwierigkeiten und Herausforderungen angesprochen, in denen das idealtypische Bild des sozialen Landlebens brüchig wird. Im Folgenden werden die sich andeutenden Muster vorgestellt und durch Ausschnitte aus den Transkripten verdeutlicht.
3.1 Muster I: Unidirektionale Weitergabe von alltagskulturellem Wissen in der Generationenfolge
In der Auswertung der Gruppendiskussion deutet sich ein erstes – recht klassisches – Vorstellungsmuster der Tradierung von Wissen an, bei dem ältere Gemeindemitglieder das Wissen an die nächste Generation weitergeben. Interessanterweise wird dieses Muster im Material insbesondere daran sichtbar, dass regelmäßig thematisiert wird, dass es eigentlich so funktionieren solle und man beispielsweise früher über familiäre Bezüge in lokale Vereinstätigkeiten beiläufig hineingewachsen sei und man so das Wissen der Älteren übernommen habe. Gleichwohl zeigt sich in vielen Passagen der Diskussion, dass diese Idealvorstellung im Alltag gerade nicht mehr funktioniere. So beschreibt die Gruppe 2, dass im Rahmen eines Festes eine Ortsführung stattgefunden habe. Die Resonanz darauf wird wie folgt beschrieben.

In diesem Ausschnitt zeigt sich, dass die Gruppe davon ausgeht, dass der intergenerationelle Tradierungsprozess aufgrund des Desinteresses der Jugend nicht (mehr) funktioniere. In ähnlicher Weise wird auch an anderen Stellen problematisiert, dass jüngere Menschen in der Vereinsarbeit nicht (mehr) bereit seien, Verantwortung – beispielsweise durch Vorstandstätigkeiten – zu übernehmen. Das Muster basiert also auf der normativen Vorstellung einer unidirektionalen Weitergabe von Wissen, bei der jüngere Menschen sich in die intergenerationelle Ordnung einfügen müssen. Es wird implizit davon ausgegangen, dass die älteren Generationen die Ordnung und „Regeln“ vorgeben, während den jüngeren Generationen die Rolle zugeschrieben wird, sich daran zu orientieren und an diese etablierten Logiken anzupassen. Die genuine Perspektive der Jüngeren wird damit kaum berücksichtigt.
Zusammenfassend deutet sich hier eine Vorstellung intergenerationellen Lernens an, nach der Jüngere von Älteren lernen sollen. Gleichwohl wird auch die Tendenz sichtbar, dass diese Vorstellung nicht von jüngeren und älteren Menschen gleichermaßen geteilt wird und es in dieser impliziten Unidirektionalität gerade nicht selbstläufig funktioniert.
3.2 Muster II: Beiläufiger – und unidirektionaler – Austausch in Settings gemeinsamer Aktivitäten
In der Auswertung der Gruppendiskussion deutet sich ein zweites Muster an, bei dem gemeinsame Aktivitäten – z. B. Feste, Jubiläen, Musikproben – thematisiert werden. Auch hier wird zunächst ein idealtypisches Bild skizziert, nach dem Alt und Jung zusammenkommen. Dabei werden häufig frühere Feste und vergangene Vereinsaktivitäten aus der Perspektive der Älteren thematisiert, wie folgendes Beispiel zeigt.

In dieser Passage wird das Bild einer regen – fast schon anstrengenden – sozialen Fest-Praxis gezeichnet, das allerdings in der Vergangenheit liegt. Die Gegenwart wird in der Erzählung der Gruppen hingegen im Modus des Verlusts dieser „Feste-Vielfalt“ thematisiert. An anderen Stellen wird entsprechend beschrieben, dass die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement abnehme und tendenziell nur von den Älteren getragen würde: „und die (.) die was machen oder gemacht ham (.) die wern immer älter“ (GD_1). So würde es „immer weniger“ werden und „es schlafe insgesamt ein“ (GD 1). Darin drückt sich auch die Befürchtung bzw. Zuschreibung aus, dass jüngere Menschen immer weniger bereit seien, Verantwortung zu übernehmen. Implizit wird damit ein Bild gezeichnet, in dem die Älteren im Hinblick auf Engagement eine Vorbildfunktion einnehmen, von dem die jüngeren Generationen potenziell lernen könnten.
Darin deuten sich zusammenfassend zwei Aspekte an. Zum einen werden in den Beschreibungen der Gruppe die Veränderungen der „Feier-Praxis“ nicht mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen in Verbindung gebracht, sondern mit einem abnehmenden Engagement der jüngeren Generationen. Zum anderen wird gerade durch diese implizite Schuldzuweisung – analog zum ersten Muster – eine unidirektionale intergenerationelle Lernvorstellung deutlich, bei der Ältere in ihrem Engagement einen Vorbildcharakter einnehmen, der von den Jüngeren übernommen werden soll.
3.3 Muster III: Einfach nur spielen: gemeinsames Praktizieren als Austausch von Wissen
Im Datenmaterial deutet sich ein drittes Muster an, bei dem der Fokus auf einer mehrseitig gemeinsam geteilten Praxis liegt. Dieses Muster wird vor allem beim lokalen Musikverein sichtbar, bei dem gemeinsame Proben und Auftritte eine zentrale Rolle spielen. So steht bei dieser Gruppe das gemeinsame Tun – anhand des generativen Themas Musik – im Mittelpunkt. Die Generationsthematik spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Dieses Muster zeichnet sich darüber hinaus auch dadurch aus, dass – im Gegensatz zu den anderen Mustern – der vermeintliche Rückgang der Aktivitäten (beispielsweise durch den Wegzug jüngerer Menschen), nicht im Modus des Verlustes thematisiert wird. Vielmehr zeigt sich bei diesem Muster eine regionale Öffnung, um das gemeinsame Praktizieren zu sichern.

In dieser Passage zeigt sich zunächst, dass – im Gegensatz zu den ersten beiden Mustern – der Verlust von (jüngeren) Vereinsmitgliedern nicht den individuellen Interessen junger Menschen zugeschrieben wird, sondern durch strukturelle und demografische Rahmenbedingungen begründet wird. Diese Perspektive lässt sich vermutlich auf die Gruppenkonstellation zurückführen, in der – im Gegensatz zu den anderen beiden Gruppen – junge Menschen klar vertreten sind. Interessant erscheint zudem, dass durch das gemeinsame Interesse am Praktizieren von Musik und der nüchternen Beobachtung der geringer werdenden Anzahl an Mitgliedern offenbar eine strategische regionale Öffnungsperspektive ermöglicht wird und aus der „einheimischen Kapelle“ eine „überregionale Kapelle“ gemacht wird.
Im Hinblick auf das intergenerationelle Lernen erscheint hier interessant, dass dieses nur auf explizite Rückfragen hin in der Gruppendiskussion thematisiert wird. Vielmehr werden Prozesse des gemeinsamen Lernens, Übens und Auftretens angesprochen, bei denen dem Dirigenten und dem Sitznachbarn oder der Sitznachbarin eine zentrale Rolle zukommt – ob diese jedoch jeweils der älteren oder jüngeren Generation zugehören, spielt dabei für die Gruppe keine zentrale Rolle. Entsprechend deutet sich ein erfahrungsbasiertes und pädagogisch orientiertes Verständnis intergenerationellen Lernens an, bei dem je nach Erfahrung ältere von jüngeren oder jüngere von älteren Menschen lernen können.
3.4 Zusammenfassende Überlegungen
In der Zusammenschau der ersten Ergebnisse deutet sich an, dass intergenerationelles Lernen im Kontext der Muster Unidirektionale Weitergabe von alltagskulturellem Wissen in der Generationenfolge und Beiläufiger – und unidirektionaler – Austausch in Settings gemeinsamer Aktivitäten vor allem als Prozess des Voneinanderlernens beschrieben werden, bei dem die jüngeren Generationen von älteren lernen sollen. Neben diesen recht klassischen Mustern (vgl. Franz & Scheunpflug 2009) liefert das Muster Einfach nur spielen: gemeinsames Praktizieren als Austausch von Wissen Hinweise darauf, dass diese unidirektionale Richtung durch ein hohes Interesse an einem generativ geteilten Thema – im Beispiel der Musik – aufgebrochen wird.
In der Analyse der Gruppendiskussionen wird zudem weiter deutlich, dass das Thema intergenerationelle Tradierung bzw. intergenerationelles Lernen durch Beschreibungen von Prozessen des Strukturwandels im ländlichen Raum begleitet wird. Gerade in Gruppendiskussionen, in denen der Anteil älterer Personen überwiegt, wird dieser Strukturwandel allerdings nicht explizit beobachtet und reflektiert, sondern durch die Erzählung der besseren Vergangenheit und der abnehmenden Verantwortungsbereitschaft jüngerer Generationen überlagert. Wenn der Strukturwandel explizit thematisiert wird – wie dies in der Musikgruppe zu beobachten ist (GD_3) – werden entsprechende Öffnungsstrategien und Zukunftsmechanismen entwickelt, um den Fortbestand der gemeinsamen Praxis zu sichern.
Aus diesen – noch vorläufigen – Erkenntnissen lässt sich die Vermutung ableiten, dass es, insbesondere im Hinblick auf die ersten beiden ähnlichen Muster, hilfreich sein könnte, im Rahmen von non-formalen Angeboten der Erwachsenenbildung im ländlichen Raum oder von Kulturprojekten und Regionalentwicklungsmaßnahmen explizite Reflexionsprozesse anzuregen, um implizite unidirektionale Vorstellungen intergenerationellen Lernens zu explizieren und dadurch die Chance zu eröffnen, intergenerationelle Lernbeziehungen in ländlichen Gemeinden anders zu denken und dies für die Tradierung lokalkultureller Wissensbestände fruchtbar zu machen.
4 Anschlussmöglichkeiten für die Erwachsenenbildung im ländlichen Raum?
Vor dem Hintergrund der vorgestellten ersten empirischen Erkenntnisse werden im Folgenden Anschlusspotenziale für die Erwachsenenbildung im ländlichen Raum sowie für non-formale Angebote im Kontext von Kultur- und Regionalentwicklung in den Blick genommen. Dazu werden sechs Handlungsperspektiven reflektiert.
- Verschiede Generationen gezielt zusammenführen! Die unterschiedliche Zusammensetzung der Gruppendiskussionen weist mitunter darauf hin, dass unidirektionale Lern- und Tradierungsmuster bei altersgemischten Gruppen weniger stark ausgeprägt sind. Vor diesem Hintergrund lässt sich als erste grundlegende Anregung für die ländliche Bildungs- und Entwicklungsarbeit ableiten, dass es von zentraler Bedeutung erscheint, jüngere und ältere Bewohner*innen gezielt in intergenerationellen Veranstaltungen zusammenzuführen, um mehrperspektivische Sichtweisen zu ermöglichen.
- Informelle Eigenlogiken explizieren und reflektieren! Im Material deutet sich an, dass Tradierungsprozesse auf dem Land durch eine Verwobenheit von Familien-, Nachbarschafts- und Vereinsleben gerahmt sind. Diese Rahmungen bleiben allerdings in der Regel implizit und werden im Alltag selten reflektiert. Um das Bewusstsein für das eigene lokale Erfahrungswissen vor Ort zu stärken, erscheint es naheliegend, an diesen unsichtbaren Bildungspotenzialen pädagogisch anzusetzen und sie für die Menschen sichtbar und kommunizierbar zu machen. Für Bildungsanbieter setzt dies erstens eine ethnografische Annäherung an die Gemeinde und ihr Zusammenleben voraus: Es gilt die Verwobenheit informeller Tradierungskontexte aus Sicht der vor Ort lebenden Menschen zu verstehen. Dabei erscheint es zentral, die Kooperation mit lokalen „Vertrauenspersonen“ und „Brückenmenschen“ zu nutzen (vgl. Bremer & Kleemann-Göhring 2011, S. 55), um die jeweiligen lokalen intergenerationellen Zielgruppen zu erreichen und für Bildungsangebote mobilisieren zu können. Zweitens setzt ein solches Unterfangen eine rekonstruktive Haltung voraus, mit deren Hilfe das implizite Erfahrungswissen zu lokalen Tradierungswegen – einschließlich ihrer Potenziale und Herausforderungen – explizit zum Thema gemacht werden kann. Auf didaktischer Ebene bedeutet das drittens, dass Menschen bei der Reflexion ihrer Erfahrungen begleitet werden. Methoden der aufsuchenden Erwachsenenbildung können genutzt werden (z. B. Bürgerkonferenzen, Zukunftswerkstätten), um Reflexions- und Partizipationsprozesse zu initiieren.
- Teilhabestrukturen lebensweltnah stärken! Im Material wird weiter sichtbar, dass lokale Wissensbestände und kulturelle Bildungspraktiken in verschiedenen lebensweltlichen Teilhabestrukturen beiläufig tradiert werden. Deutlich wird auch, dass in den Gruppendiskussionen argumentiert wird, dass sich die Strukturen des Zusammenlebens verändern und verbindliche Handlungsstrukturen individualisiert werden würden. Der vermeintliche Nachwuchsmangel und der in den Gruppendiskussionen unterstellte mangelnde Wille der Menschen, sich in Vereinen zu engagieren, wird übergreifend thematisiert. Eine zentrale Herausforderung der Bildungsarbeit könnte deshalb darin liegen, Reflexionsräume für einen konstruktiven intergenerationellen Austausch über und den Umgang mit strukturellen und demografischen Veränderungen des Gemeindelebens zu ermöglichen (vgl. Fricke 2012). Dabei kann an die bestehenden Teilhabestrukturen vor Ort angeknüpft und es können Bildungsgelegenheiten initiiert werden, die sich mit Veränderungen von Strukturen und Wissensbeständen in der Gemeinde intergenerational auseinandersetzen. Besonders anschlussfähig erscheinen hier Regionalentwicklungsinitiativen, bei denen beispielsweise das semantische Bild des idyllischen Dorfes (vgl. Redepenning 2020) hinterfragt und Erfahrungen zu erlebten Veränderungen und Zukunftswünsche aller beteiligten Generationen ausgetauscht werden. Zudem könnten hier auch Kulturprojekte ansetzen, mit denen die Transformation kultureller Bedeutsamkeiten von lokalen Festkulturen und Traditionen explizit zum Thema wird (vgl. Kegler 2018).
- Neue Anforderungen eines kultivierenden Engagierens bearbeiten! Die zunehmende Individualisierung von Engagement wird von den Befragten offenbar virulent erlebt. Problematisiert wird der strukturelle Wandel von Verlässlichkeits- und Verbindlichkeitsstrukturen, die dazu führen würden, dass einzelne Verantwortungsträger*innen (Vorstandstätigkeit) lokales Wissen pflegen. Diese Argumentationsfigur steht jedoch auch im Kontrast zu wissenschaftlichen Beobachtungen ländlicher Engagementstrukturen, in denen deutlich wird, dass bürgerschaftliches Engagement – insbesondere in Vereinen – in ländlichen Räumen besonders stark ausgeprägt erscheint, auch um die mangelnden Infrastrukturen zu kompensieren (vgl. Gensicke 2014). An dieser Stelle werden erneut Anschlüsse für eine Erwachsenenbildung im ländlichen Raum sichtbar, mit der regionale Entwicklungsprozesse angeregt werden können (vgl. Klemm 2006). Dafür bieten sich insbesondere biografische und partizipative Methoden an, um Motivationen, Hintergründe und Einstellungen zu Engagement und Entwicklung der beteiligten Generationen systematisch in den Blick zu nehmen und in Austausch zu bringen. Als Format bieten sich z. B. Bürgerkonferenzen an, bei denen alle Gemeindemitglieder die Möglichkeit erhalten, ihre Perspektive in lokale Reflexions-, Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse partizipativ einzubringen. Durch diese Form expliziter intergenerationeller Verständigungsprozesse entsteht das Potenzial, gesellschaftliche und strukturelle Wandlungsprozesse generationensensibel zu bearbeiten und gemeinsam zu lernen.
- Gelegenheitsstrukturen für explizite Intergenerationalität! In den Gruppendiskussionen wird eine Abnahme von Gelegenheitsstrukturen (Feste und Feiern, Treffen in Geschäften) thematisiert und argumentiert, dass dadurch auch die Möglichkeiten der Weitergabe von Wissen eingeschränkt seien. Interessant erscheint dabei, dass in den Gruppendiskussionen deutlich wird, dass dies nicht zum Ausgangspunkt von entgegenwirkenden Initiativen genommen wird, sondern eine eher abwartende Haltung sichtbar wird, die sich durch die eingeschränkten Gelegenheitsstrukturen in der Pandemie nochmals verschärft haben dürfte. Für Erwachsenenbildung im ländlichen Raum sowie für Kultur- und Regionalentwicklungsprojekte entsteht hier die Möglichkeit, Gelegenheiten für Begegnung und Austausch in Kooperation mit lokalen Initiativen und Vereinen zu schaffen und didaktisch und methodisch zu begleiten. Schließlich zeigt nicht nur die Argumentation in diesem empirischen Material, sondern auch die bestehende Forschung zur intergenerationellen Arbeit, dass intergenerationelle Reflexionsprozesse in einem Begegnungsraum nicht per se stattfinden, sondern von einer professionellen Begleitung profitieren, die diese Prozesse anregt. Um Muster zu reflektieren und aufzubrechen, nach denen jüngere von den älteren Generationen lernen sollen, bedarf es vielfältiger generationensensibler Methoden (vgl. Antz et al. 2009). Mit diesen wird es beispielsweise möglich, auch umgekehrte Lernrichtungen erfahrbar zu machen. Biografieorientierte Methoden ermöglichen es, die jeweils generationsspezifischen Biografien der Beteiligten intensiver kennenzulernen und sie so aus einem neuen Blickwinkel betrachten zu können.
- Generative Themen reflektieren und identifizieren! Schließlich deutet sich im empirischen Material an, dass intergenerationelle Lern- und Tradierungsprozesse anhand eines gemeinsam geteilten Themas ein hohes Maß an Selbstläufigkeit aufweisen. Das gemeinsame Praktizieren führt allerdings auch zu einer Dethematisierung von Generationenzuschreibungen. Daraus ergeben sich für die regionale Bildungs-, Kultur- und Entwicklungsarbeit zwei anregende Anknüpfungspotenziale. Auf der einen Seite könnte es interessant sein, in solchen Gruppen die Generationenthematik explizit zu reflektieren – beispielsweise, indem die Gruppenmitglieder durch biografieorientierte Methoden angeregt werden, ihre gesellschaftlich-historischen Sichtweisen zum jeweiligen generativen Thema zu reflektieren und sich mit Angehörigen einer anderen Generation in ihrer Gruppe darüber auszutauschen. Auf der anderen Seite bietet es sich ebenso an, gesellschaftlich relevante generative Themen – wie Nachhaltigkeit und Klimawandel – zum Ausgangspunkt von Veranstaltungen zu machen, bei denen die verschiedenen Generationen angeregt werden, die Relevanz dieser gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen aus ihrer generationsspezifischen Perspektive für ihre lokale Gemeinde zu betrachten und ggf. gemeinsame Handlungsstrategien und lokale Entwicklungspotenziale zu identifizieren.
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Autorinnen
Claudia Kühn, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Erwachsenenbildung und Weiterbildung an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Julia Franz, Prof. Dr., Professorin für Erwachsenenbildung und Weiterbildung an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.
Annette Scheunpflug, Prof. Dr., Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Review
Dieser Beitrag wurde nach der qualitativen Prüfung durch das Peer-Review und die Redaktionskonferenz am 25.08.2022 zur Veröffentlichung angenommen.
This article was accepted for publication following a qualitative peer review at the editorial meeting on the 25th August 2022.
Wir danken dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, das das Forschungsprojekt „Tradierung – Vergewisserung – Doing Identity“ im Rahmen der Förderrichtlinie von Forschungsvorhaben zur kulturellen Bildung in ländlichen Räumen unter dem Förderzeichen 01JKL1901 seit Dezember 2019 fördert.