Die Bedeutung von Ländlichkeit und Regionalität, von ländlichen Regionen und ländlichen Räumen wird bereits seit einigen Jahren öffentlichkeitswirksam diskutiert, schließlich machen ländliche Räume – je nach Klassifizierung – zwischen 91 % (Thünen-Typologie) und 68 % (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, BBSR) – der Fläche Deutschlands aus. Im Diskurs lassen sich zwei unterschiedliche Blickwinkel beobachten. Auf der einen Seite wird ein recht romantisches Bild des ruhigen und naturverbundenen Landlebens gezeichnet, auf der anderen Seite werden komplexe Herausforderungen thematisiert – z. B. geringe infrastrukturelle Anbindungen und Mobilität, Abwanderungen, demografischer Wandel –, mit denen ländliche und vor allem periphere Räume konfrontiert sind. Insbesondere vor dem Hintergrund dieser eher defizitär orientierten strukturellen Perspektive auf ländliche Regionen wird deren Entwicklung von bildungspolitischer Seite in den letzten Jahren systematisch gefördert, beispielsweise durch Projektlinien, bei denen die Digitalisierung, die kulturelle Bildung oder die Stärkung ehrenamtlicher Strukturen auf dem Land im Mittelpunkt stehen. Auch in Diskursen der Erwachsenenbildung spielt die Auseinandersetzung mit Ländlichkeit und Regionalität bereits seit einigen Jahrzehnten eine wichtige Rolle. Dabei lassen sich tendenziell drei Schwerpunkte in der Diskussion beobachten.
Zum einen wurde mit dem Projekt der „lernenden Regionen“ (vgl. Emminghaus & Tippelt 2009) und „Lernen vor Ort“ (vgl. Döbert & Weishaupt 2014) der Blick auf die Regionalisierung von Bildungsarbeit gelenkt, bei denen die Kooperationen und Vernetzungen von Akteurinnen und Akteuren im Mittelpunkt standen, um so einerseits gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten in ländlichen Regionen zu stärken und um andererseits steuerungspolitisch die Möglichkeiten des Bildungsmonitorings weiter auszubauen. Zum Zweiten spielen Ländlichkeit und Region auch bei theoretischen und empirischen Auseinandersetzungen zur räumlichen Differenzierung von Weiterbildungsstrukturen eine Rolle. In diesem Zusammenhang wird beispielsweise über den „Weiterbildungsatlas“ (vgl. Martin et al. 2021) versucht, einen regionalspezifischen Überblick über die plurale Erwachsenenbildungslandschaft zu ermöglichen und strukturelle regionale Ausdifferenzierungen in der Träger- und Anbieterstruktur sichtbar zu machen. Dabei werden – wie in früheren Untersuchungen auch – Unterschiede zwischen Stadt und Land hinsichtlich der Programm- und Angebotsstruktur offengelegt (vgl. Gieseke 2006, S. 75; Weishaupt & Böhm-Kasper 2011) und damit verbundene „territoriale Ungleichheitsdimensionen“ (Herbrechter et al. 2011, S. 29 f.) herausgearbeitet. Zum Dritten sind Ländlichkeit und Regionalität zentrale Gegenstände der Diskurse um ländliche Erwachsenenbildung (vgl. Klemm 2015). Ländlichen Bildungsräumen wird dabei eine „relative Besonderheit“ zugeschrieben, die sich durch eine Nähe zur Landschaft (vgl. Faber 1989) oder durch einen Rückbezug auf „rural values“ (Ritchey 2008, S. 7) auszeichne. Allerdings wird diese Perspektive durch die – aufgrund von Globalisierungs- und Modernisierungsprozessen – zunehmende Unbestimmbarkeit des genuin Ländlichen irritiert (vgl. Hugo & Champion 2004) und mit einer Legitimationsdebatte um ländliche Erwachsenenbildung bearbeitet (vgl. z. B. Faber 1989; Klemm 1997; Ritchey 2008). Konzeptionell zeichnet sich der Diskurs um ländliche Erwachsenenbildung durch die Verknüpfung von ländlicher Erwachsenenbildung, Regionalentwicklung und aufsuchender Bildungsarbeit aus.
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die Themen Ländlichkeit und Regionalität für die Erwachsenenbildung in vielfältiger Hinsicht relevant sind. Mit dem Themenheft „Ländlichkeit und Regionalität“ wird vor diesem Hintergrund darauf abgezielt, den Blick auf aktuelle theoretische und empirische Auseinandersetzungen zu richten und innovative Projekte aus der erwachsenenpädagogischen Praxis vorzustellen.
Das Themenheft wird daher auch mit einem interdisziplinären Beitrag eröffnet, in dem sich der Kulturgeograf Marc Redepenning „Zur Uneinheitlichkeit des Räumlichen – Ländlichkeit, Region und raumbezogene Identität als Ergebnisse unterschiedlicher Raumsemantisierungen“ mit unterschiedlichen Möglichkeiten beschäftigt, wie die Phänomene der Ländlichkeit und Regionalität kulturgeografisch betrachtet werden können. Neben der Materialität von Räumen fokussiert er dabei vor allem unterschiedliche Semantiken und zeigt, wie diese auch auf die Identität ländlicher Regionen bezogen werden können. Im Anschluss an diese interdisziplinäre Perspektive folgt ein empirischer Beitrag aus der Erwachsenenbildung, bei dem sich Jessica Preuß, Lena Sebening und Steffi Robak mit der „Regionalspezifischen Konzeptualisierung kultureller Bildung(sgelegenheiten)“ auseinandersetzen. Dabei werden entlang der entwickelten Begriffe „Bildungsgelegenheiten“ und „Identifikationsaspiration“ Regionalspezifika der Organisiertheit kultureller Bildung und ihrer Bildungsakteurinnen und -akteure herausgearbeitet und an einem Beispiel – der peripheren Region Wendland – verdeutlicht. Grundlage ist ein aktuelles Forschungsprojekt zur kulturellen Bildung in peripheren ländlichen Regionen. In einem zweiten empirischen Beitrag fokussieren Claudia Kühn, Julia Franz und Annette Scheunpflug „Informelle Tradierungsprozesse auf dem Land“. Dabei wird die Frage verfolgt, wie Wissensbestände in Vereinen, Familien und Nachbarschaftsnetzwerken in ländlichen Regionen weitergegeben werden, und es werden erste empirische Ergebnisse einer qualitativen Studie präsentiert. Die Erkenntnisse zur informellen Tradierung werden abschließend genutzt, um Anschlussmöglichkeiten für die non-formale Erwachsenenbildung zu reflektieren. Im Anschluss daran beschäftigt sich Marion Fleige mit den Herausforderungen und Besonderheiten der „Programmgestaltung im ländlichen Raum“. Auf der Grundlage von empirischen Ergebnissen der Programmforschung sowie darüber hinausgehenden Beobachtungen der Angebotsentwicklung in Institutionen der Erwachsenenbildung in ländlichen Räumen fasst sie Erkenntnisse zusammen und skizziert Anschlussfragen für die Spezifizierung von Programmplanung.
Anknüpfend an diese Grundlagen der Programmplanung setzt sich Bernd Käpplinger aus praxisorientierter Perspektive mit dem „Bedarf in der Programmplanung von Volkshochschulen in ländlichen Räumen“ auseinander und stellt die Erkenntnisse der Begleitforschung zu einer partizipativ erarbeiteten Handreichung für die Besonderheiten der Programmplanung im ländlichen Raum zusammen. Eine eher non-formale bzw. informelle Struktur ländlicher Erwachsenenbildung wird mit dem Beitrag von Annette Wilbers-Noetzel in den Blick gerückt. Sie stellt die ehrenamtliche Qualifizierung von Dorfmoderatorinnen und -moderatoren in Niedersachsen vor und reflektiert diese als erwachsenenpädagogischen Beitrag zum Empowerment von Menschen und Dörfern. Mit dem Beitrag von Jessica Preuß wird ebenfalls eine informell gewachsene Bildungsgelegenheit betrachtet. Sie porträtiert das seit einigen Jahrzehnten bestehende Festival der „Kulturellen Landpartie“ im Wendland und interpretiert es als Ausdruck regionaler Tradierung, Zugehörigkeit und Inszenierung. Im Anschluss daran wird die Perspektive der strukturellen Unterstützung von Bildungsmöglichkeiten auf dem Land in den Blick genommen. So wird im Beitrag von Hauke Homeier die Frage verfolgt, wie kulturelle Bildungsaktivitäten auf dem Land unterstützt und gestärkt werden können. Dazu wird das fördernde Netzwerk LandKulturPerlen in Hessen zur kulturellen Bildung auf dem Land präsentiert. Abschließend werden die Erfahrungen von Kooperationen in den Mittelpunkt gerückt. Dazu stellen Daniel Schütz und Torsten Denker das Kooperationsprojekt Regional-digital@vhs vor und zeigen auf, wie durch regionale Kooperationen ländliche Volkshochschulen profitieren können.
Die Beiträge aus den Perspektiven von Wissenschaft und Praxis geben spezifische Einblicke zu aktuellen Diskursen und Entwicklungen zu Ländlichkeit und Regionalität in der Erwachsenenbildung. Den Leserinnen und Lesern sei bei diesen Einblicken eine anregende Lektüre gewünscht.
Literatur
Döbert, H. & Weishaupt, H. (Hrsg.) (2014). Bildungsmonitoring, Bildungsmanagement und Bildungssteuerung in Kommunen – Ein Handbuch. Münster: Waxmann.
Emminghaus, C. & Tippelt, R. (Hrsg.) (2009). Lebenslanges Lernen in regionalen Netzwerken verwirklichen. Abschließende Ergebnisse zum Programm „Lernende Regionen – Förderungen von Netzwerken“. Bielefeld: W. Bertelsmann.
Faber, W. (1989). Gegenwartsfragen und Zukunftsperspektiven ländlicher Erwachsenenbildung. Erwachsenenbildung, 35(2), 83–88. Wiederabdruck in Faber, W. (Hrsg.) (1990). Für eine zeitgerechte Erwachsenenbildung. Gesammelte Aufsätze von 1974 bis 1989 (S. 115–124). Bamberg: Kontaktstelle für Universitäre Erwachsenenbildung.
Gieseke, W. (2006). Programmforschung als Grundlage der Programmplanung unter flexiblen institutionellen Kontexten. In K. Meisel & C. Schiersmann (Hrsg.), Zukunftsfeld Weiterbildung. Standortbestimmungen für Forschung, Praxis und Politik (S. 69–88). Bielefeld: W. Bertelsmann.
Herbrechter, D., Loreit, F. & Schemmann, M. (2011). (Un-)Gleichheit in der Weiterbildung unter regionalen Vorzeichen. DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung, 19(2), 27–30.
Hugo, G. & Champion, T. (Hrsg.) (2004). New Forms of Urbanization: Beyond the Urban-rural Dichotomy. Farnham: Ashgate.
Klemm, U. (Hrsg.) (1997). Bilanz und Perspektiven regionaler Erwachsenenbildung. Modelle und Innovationen für den ländlichen Raum. Frankfurt a. M.: DIE.
Klemm, U. (2015). Eigenständige Regionalentwicklung als Leitidee für die Erwachsenenbildung im ländlichen Raum: Erfahrungen seit den 1980er Jahren und Perspektiven für das 21. Jahrhundert. In E. Nuissl & H. Nuissl (Hrsg.), Bildung im Raum (S. 75–100). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Martin, A., Schoemann, K. & Schrader, J. (2021). Deutscher Weiterbildungsatlas 2019. Kreise und kreisfreie Städte im Längsschnitt. Bielefeld: wbv Publikation. https://doi.org/10.3278/85/0021w
Ritchey, J. (2008). Rural Adult Education: Current Status. New Directions for Adult and Continuing Education, 30(117), 5–12.
Weishaupt, H. & Böhm-Kasper, O. (2011). Weiterbildung in regionaler Differenzierung. In R. Tippelt & A. v. Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (5. Aufl., S. 789–799). Wiesbaden: Springer VS.
Autorinnen
Steffi Robak, Prof. Dr., Professorin für Bildung im Erwachsenenalter an der Leibniz Universität Hannover
Julia Franz, Prof. Dr., Professorin für Erwachsenenbildung und Weiterbildung an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg