Alter(n) und Lernen: zur Bedeutung von reflexivem Lernen in informellen Bildungssettings

1 Einleitung

Der Eintritt der Geburtskohorten der sog. Babyboomer (1955–1965) in den Ruhestand prägt zunehmend heutige Bildungssettings für Senioren und Seniorinnen (Ehrlich & Vogel 2018). Mit dem steigenden Anteil formal höherer Bildungsabschlüsse und Qualifikationen der Teilnehmenden verändern sich Bedürfnisse und Erwartungen an die Angebote der (Weiter)Bildung für Ältere. Dieser Prozess wird begleitet durch veränderte, gesamtgesellschaftliche Vorstellungen von der Lebensphase Alter: War sie noch bis in die 1980er-Jahre stark geprägt von Passivität und Abhängigkeit, beschreiben aktuelle Alternsbilder die Lebensphase als Zeit für Selbstverwirklichung und Aktivität (Gilleard & Higgs 2000). Wo früher das mit negativen Bildern belegte Thema Alter in Bildungssettings eher gemieden oder nicht angeboten wurde, lässt sich heute ein größeres Bedürfnis nach Thematisierung erkennen (Prömper & Richter 2015). Entsprechend divers sind die Bildungsangebote für ältere Menschen geworden mit einer deutlichen Erweiterung von Wissensvermittlung zu Selbstreflexion der individuellen Biografie und (kollektiven) Zukunftsgestaltung. Der Beitrag thematisiert die Bedeutung von reflexivem Lernen für ältere Menschen und beleuchtet, wie in unterschiedlichen informellen Bildungssettings Reflexivität geübt wird.

2 Bildung im Alter

Lebenslanges, lebensbegleitendes Lernen gewinnt in der Langlebigkeitsgesellschaft eine neue Dimension. In der nachberuflichen, erwerbsbefreiten Phase zielen Bildungsprozesse im Alter(n) vor allem auf Selbstbildung (Kolland et al. 2018) für ein gelingendes Leben im Älterwerden, es geht um reflexive Lebensgestaltung und einen bewussteren Lebensvollzug (Prömper & Richter 2015). Erfahrene Abschiede, Ambivalenzen und Begrenzungen im Altern sind weniger Anlässe einer betreuenden Altenbildung als vielmehr und zunehmend Motive zweckfreier Selbstentfaltung (Himmelsbach 2015) selbstbewusst Lernender mit erwarteten Gewinnen wie Selbstentfaltung, Teilhabe, Resonanz, Anerkennung und Erfahrungen von Zugehörigkeit. Die Motive der heutigen älteren Lernenden orientieren sich an Bedürfnissen wie Weltverstehen, Wissensbereicherung, Selbstentfaltung und sinnvollem Tätigsein. Dies erfordert von den Bildungsträgern vielfach eine Neu- und Umorientierung ihrer Angebote für ältere Lernende, die auch politisch unterstützt werden muss. Darauf zielen die Positionspapiere der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO): „In einer Gesellschaft des langen Lebens kommt Bildung im Alter eine besondere Bedeutung zu. Sie muss als politische Aufgabe erkannt und auf allen staatlichen Ebenen vorangetrieben werden.“ (BAGSO 2022, S. 4)

Mit dem wachsenden Anteil der Nachkriegskinder und Babyboomer (Jahrgänge 1955–1965), auch „Kinder der Bildungsexpansion“ genannt (Tippelt et al. 2009, S. 45), verändern sich die Bildungsbedürfnisse. Die Erfahrung mit gesellschaftlichen Umbrüchen im jungen Erwachsenenalter (Stichwort 1968 als kultureller Resonanzraum, vgl. Hodenberg 2018) sowie eine sich daraus entwickelte generationelle Zugehörigkeit kann sich sowohl im politischen und gesellschaftlichen Engagement älterer Menschen deutlich machen als auch in der Herstellung eines reflexiven Selbst-Welt-Verhältnisses (Leontowitsch & Wolf 2019) Ausdruck finden.

3 Reflexives Lernen

Reflexivem Lernen liegt ein sozialkonstruktivistisches Verständnis von Wissensproduktion zugrunde (Moon 2004). Demnach besteht Wissen nicht unabhängig vom Menschen und kann durch diesen erworben werden, sondern Wissen wird hier verstanden als etwas, das in Interaktion mit anderen (Personen, Medien) hergestellt wird. Der Prozess dieser Herstellung und Aneignung von Wissen stellt das Lernen dar. Nach Thompson (2020) sind drei Aspekte für das Lernen relevant: Lernen geht zunächst „mit einem Nicht-Wissen bzw. einem Nicht-Können“ (Thompson 2020, S. 112) einher und benötigt im Lernprozess Zeit, in der der Umgang mit Lerngegenständen immer wieder geübt werden muss. Des Weiteren setzt Lernen ein aktives Wollen und Tun voraus. Lernen kann zwar durch Dritte begünstigt und unterstützt werden, Erkenntnis und Verständnis sind aber nur durch selbstgewollte und aktiv hergestellte Lernarrangements möglich. Die Definition von Lernen nach Göhlich und Zirfas (2007) verdeutlicht den relationalen Aspekt der Wissensproduktion:

„Lernen ist aus pädagogischer Sicht der erfahrungsreflexive, auf den Lernenden – auf seine Lebensfähigkeit und Lebensweise sowie auf seine Lernfähigkeit und Lernweise – sich auswirkende Prozess der Gewinnung von spezifischem Wissen und Können.“ (Göhlich & Zirfas 2007, S. 180)

Hiernach verläuft Lernen modal „erfahrungsbezogen, dialogisch, sinnvoll und ganzheitlich“ (ebd.). Erfahrungsbezogen bedeutet hierbei, dass Lernen immer bereits an bestehenden Erfahrungen anknüpft und in einem Prozess der Bewertung Erfahrungswissen über das Leben fortlaufend anreichert. Die Auseinandersetzung und Bewertung von Wissen im Lernprozess involviert andere Menschen als auch Lerngegenstände, sodass hier von einem dialogischen Prozess gesprochen wird. Moon (2004) spricht in diesem Zusammenhang von cognitive housekeeping, der Fähigkeit neue Erfahrungen zu machen, bestehendes Erfahrungswissen zu überprüfen, möglicherweise zu verwerfen und durch neues Wissen anzureichern oder gar zu ersetzen. Dieses aktive Lernen bezeichnen Göhlich und Zirfas (2007) als ganzheitlich, da die kognitive Veränderung durch den kontingenten Sinn auch jenseits des Lerngegenstandes liegende Aspekte transformieren oder tangieren können.

Neben den Dimensionen des Wissen-Lernens (Aneignung von existierenden Wissensbeständen), Können-Lernens (körperlich-leibliche Erfahrungen) und Lernen-Lernens (Fähigkeit, Lernstrategien zu entwickeln) (Thompson 2020) ist reflexives Lernen vor allem für die Dimension des Leben-Lernens von besonderer Bedeutung. Im Leben-Lernen wird der Bezug des Lernens zur individuellen Erfahrung und Lebensführung eines Menschen deutlich. Bildung im Alter, die sich auf Leben-Lernen konzentriert, betrachtet lebenslanges Lernen nicht nur als Kompetenzerwerb (Zuwachs an Wissen und Können), sondern vielmehr als Möglichkeit, reflektierte Selbst-Welt-Verhältnisse stärker in den Blick zu nehmen (Himmelsbach 2015). Mit fortschreitendem Lebensalter wird das Selbst-Welt-Verhältnis durch eine fehlende Kongruenz zwischen biografisch aufgebautem Erfahrungswissen und veränderten Lebensbedingungen ins Wanken gebracht. Lernen im Alter ist nach Kade (2009) vor allem eine Anpassung an veränderte Lebensbedingungen. Dort, wo Lernen im Alter (strukturell) verhindert oder (individuell) nicht nachgegangen wird, werden Veränderungen ausgeblendet und neue Lebensbedingungen vermieden. Das kann dazu führen, dass ältere Personen Situationen vermeiden, die sie mit ihrem bisherigen Wissen nicht mehr meistern können (z. B. Digitalisierung), was wiederum soziale Ausschlussprozesse zur Folge haben kann. Der Rückzug in bekannte Rituale und Routinen kann zudem Unmündigkeit befördern: „Bis zum Lebensende ist lernende Veränderung möglich, wer sich im Alter nicht selbst verändert, dem werden Entscheidungen anderer vorgegeben. In dieser Phase geht es um die Anpassung an veränderte Lebensbedingungen im Alter, aber auch um die Entdeckung bisher verborgener Ressourcen.“ (Kade 2009, S. 69)

Anpassung an veränderte Lebensbedingungen im Alter und das Entdecken verborgener Ressourcen benötigt Reflexion, die im dialogischen Prozess mit anderen zu neuen Erkenntnissen führt. Im Folgenden werden informelle Bildungskontexte aufgezeigt, in denen reflexives Lernen im Alter aktiv betrieben wird.

4 Bildungskontexte

Die Landschaft möglicher subjektorientierter Bildungskontexte im Alter ist breit und nicht in staatliche Förderstrukturen integriert (Prömper & Richter 2015). So ist Bildung im Alter in ihren Ressourcen und Angeboten hochgradig abhängig von regionalen Strukturen und Netzwerken, oft von individuellen und bürgerschaftlichen Finanzierungsquellen, aber auch vom persönlichen wie gesellschaftlichen Engagement ihrer mitwirkenden Akteurinnen und Akteure. Solche informellen Bildungsgelegenheiten firmieren oft unter dem Dach „freier“ Bildungsträger, häufig sind es jedoch auch Vereine, Gruppen und Organisationen, die keine expliziten Bildungseinrichtungen sind. Gelernt wird an vielfältigen Orten, Szenen und Kontexten. Beispiele informeller Lerngelegenheiten sind im Folgenden in drei thematische Bereiche aufgeteilt worden, was den relationalen und reflexiven Charakter der Bildungsangebote hervorhebt: Übergang in den Ruhestand, aktive Lebensgestaltung und soziale Begegnung. Sie sind nur schwer zu trennen, und Mischformen prägen das Feld.

Tabelle 1: Drei Bereiche für informelle Lerngelegenheiten

Übergang Beruf-Ruhestand

Aktive Lebensgestaltung im Alter

Kommunikation und Austausch

Bildungsurlaub „Gesund alt werden“

Online-Kurs „Vom Beenden und neu beginnen“ Selbsthilfegruppe

Forschungsseminare im Rahmen des Seniorenstudiums

Seniorenstudium

VHS-Kurse „Aktiv Altern“

Nachbarschaftstreffpunkte

Besuchsdienste

Engagement-Lotsen Fortbildungsangebote (z. B. Sterbebegleitung, Flüchtlingsbegleitung)

Studienreisen

Selbsthilfegruppen

Beratungstage

Spieleabende

Wandergruppen

Chorproben

Museumsführungen

Reparatur-Cafés

Lesezirkel

Im Folgenden werden für zwei Bereiche aus der Praxiserfahrung von Hans Prömper einige Bildungssettings exemplarisch vorgestellt.

Angebote zum Übergang Beruf-Ruhestand: Die Formate Bildungsurlaub Gesund alt werden sowie Online-Halbjahreskurs Vom Beenden und neu beginnen sprechen schon in der Ausschreibung bewusst Menschen in der Übergangssituation an. Die Teilnehmenden kommen aus unterschiedlichen Berufen und Positionen. Vertreten sind Ingenieure/Techniker, Verwaltungskräfte sowie Erziehungs- und Pflegeberufe, ehemals Angestellte als auch Selbstständige. Ihre betriebliche Position reicht von (unterer) Weisungsgebundenheit bis zur selbstständigen Leitung größerer Einheiten. Es sind sowohl (kinderlose) Singles als auch Großeltern dabei. Bei aller beruflichen und sozialen Verschiedenheit eint sie weniger die Angst vor dem Loch als vielmehr der Wunsch, den kommenden Lebensabschnitt gesund sowie angefüllt mit Aktivität, Kommunikation und Lebensfreude zu gestalten. Selbstbefragungsbögen, kreative Arbeitsformen mit Bildern und Einsatz von Malmaterialien, aber auch Körperübungen und der Austausch in Kleingruppen regen die jeweils individuelle Auseinandersetzung mit Fragen von Lebensorientierung, Gesundheit, Resilienz, Werten, sozialem Netz, Sehnsüchten oder Altersbildern an. Sie ermöglichen die Verknüpfung von kognitivem, emotionalem und sozialem Lernen, bei dem vor allem auch auf die Begegnung mit fremden Personen und Erfahrungshintergründen Wert gelegt wird. Im Online-Kurs werden vor allem die Zeiten zwischen den Kurseinheiten für Reflexionsfragebögen, kreative Aufgaben oder das Erkunden innerer Befindlichkeiten genutzt, die dann in der Gruppe besprochen und reflektiert werden.

Männergruppen und -wochenenden: Es sind auf Dauer angelegte Gruppen und Seminare, in denen Männer sich über ihre Lebensfragen, Konflikte, Ängste, Unsicherheiten und Gestaltungsspielräume austauschen. Als Folge der längerfristigen Begleitung und der Ermöglichung einer offenen Kommunikation untereinander kommen hier unterschiedliche Lebensthemen ins Gespräch: von Liebe, Partnerschaft und Kinder über Beruf, Burnout und Ruhestand bis hin zu Krankheit, Abschied und Tod, auch Suizid. Die Teilnahme erfolgt selbstgewählt und aus eigenem Antrieb. Es motivieren der offene Austausch untereinander, die Suche nach Kommunikation und Freundschaften, auch Wünsche nach Anerkennung und Unterstützung in schwierigen Lebenslagen. Vielfach geht es um Gefühle, Innenlenkung, Autonomie und Authentizität; es motiviert ein partnerschaftlicher Umgang miteinander, jenseits von Dominanz, Reputation oder Leistungsnachweisen. Wichtig ist jedoch die Gruppenleitung, welche durch eine Atmosphäre der Offenheit, Vertraulichkeit, Akzeptanz und Nicht-Bewertung auch eine Auseinandersetzung mit kontroversen und angstbesetzten Themen ermöglicht.

5 Das Projekt „Sehnsüchte im Alter“ als Beispiel für veränderte Lernbedürfnisse und reflexives Lernen im Alter

Forschendes Lernen gilt schon lange als Bestimmungsmoment des wissenschaftlichen Lernens und Studierens Älterer (Schmidt-Hertha 2018) bzw. wird als dessen blinder Fleck (Schiefer-Rohs 2020), Profil (Jütte et al. 2017) oder Desiderat gefordert (Schäffter 2017). Exemplarisch wird hier nun ein zweisemestriges Methoden- und Forschungsseminar vorgestellt, das explizit intergenerativ, partizipativ sowie gender- und alternsorientiert angelegt war. Es handelt sich um ein Kooperationsseminar mit Studierenden im Masterstudium Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität und der Universität des 3. Lebensalters (U3L) in Frankfurt.

In den getrennten Semesterprogrammen wurden zunächst unterschiedliche Interessen angesprochen: Für Masterstudierende handelte es sich um ein zweisemestriges Methodenseminar mit Credit-Points und dem Charme, ein partizipatives Forschungsprojekt mit Studierenden der U3L als Co-Forscher*innen kennenlernen zu können. Für die U3L-Studierenden war es ein intergeneratives Forschungsseminar zum Thema „Alter, Bildung und Geschlecht“ mit regelmäßigen Begegnungen mit jungen Studierenden. In wechselnden Phasen gemeinsamer und getrennter Seminareinheiten eigneten sich die Beteiligten auf teils unterschiedlichen Wegen Grundlagen und Methoden qualitativen Forschens an und setzten diese in eine qualitative Interview-Studie zum Thema „Sehnsüchte im Alter“ um. Sechs Phasen kennzeichneten den gemeinsamen Prozess:

  1. Kennenlernen und Verständigung über theoretische Zugänge/Grundlagen zu Alter(n), Gender und lebenslangem Lernen
  2. Aneignung von Grundlagen, Prinzipien und Methoden partizipativer Forschung
  3. Entwicklung einer gemeinsamen Forschungsfrage
  4. Wissenserwerb zum methodischen und forschungspraktischen Vorgehen
  5. Durchführung leitfadengestützter Interviews und Auswertung
  6. Reflexion des gesamten Forschungsprozesses und Vorstellen der Ergebnisse in einer hochschulöffentlichen Abschlussveranstaltung.

Im Forschungsseminar fand reflexives Lernen in allen oben genannten Phasen statt, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung in den beteiligten Gruppen (MA-Studierende, U3L-Studierende, interviewte Personen, Besucher der Abschlussveranstaltung sowie der Leitung), was im Folgenden näher beleuchtet wird.

In der Kennenlernphase mussten beide Studierendengruppen ihre eigenen Standpunkte und Wissen über die jeweils andere Gruppe im Lichte neuer Erfahrungen überarbeiten. Kommunikationsformen, Lernorte, Erwartungen an das Seminar/die Kommilitoninnen und Kommilitonen/die Leitung mussten demokratisch verhandelt werden. Während die Ansprache per Du und der Westend Campus als Ort für gemeinsame Treffen schnell Einigung fanden, wurden die Arbeitsteilung und das Verhältnis von Verpflichtung für die MA-Studierenden versus die Freiwilligkeit der U3L-Studierenden fortlaufend thematisiert. In der Aneignung der Grundprinzipien partizipativer Forschung (von Unger 2014), die für alle (auch die Leitung) Neuland darstellte, wurde deutlich, dass die MA-Studierenden auf vorheriges qualitatives Methodenwissen aufbauen konnten, wohingegen die U3L-Studierenden kaum Bezugspunkte hatten. Unter ihnen waren vielmehr Teilnehmer*innen mit einem hohen Bildungsgrad in den Naturwissenschaften, die mit Neugierde, aber auch großer Skepsis sich der neuen Methodologie näherten. Bei der Aneignung von methodischem Wissen für die Phase der Datenerhebung organisierten die MA-Studierenden vier Workshops zu den Themen Forschungsethik, qualitative Methodologie, Sampling und qualitative Interviews. In der Konzeption der Workshops reflektierten sie ihr bisheriges Methodenwissen, fügten weiteres hinzu und boten es so dar, dass es für die U3L-Studierenden verständlich wurde.

Der Prozess der Entwicklung einer gemeinsamen Forschungsfrage stellte sich als besonders langwierig und schwierig dar. In fünf altersgemischten Kleingruppen wurden über mehrere Sitzungen hinweg Themen entwickelt und im Plenum vorgestellt. In der Diskussion um die diversen thematischen Facetten zu Alter(n) und Gender konnte zunächst keine Schnittmenge gebildet werden, jedoch wurde zunehmend von Sehnsüchten im Alter gesprochen und der Frage nach der Gestaltung von verbleibenden Zeithorizonten. Ein Quorum hierfür blieb aber aus. Um die Stagnation aufzulösen, beschloss die Leitung zwei Vorgehen: Zum einen sollten die U3L-Studierenden persönliche Reflexionen zum Thema Sehnsüchte im Alter aufschreiben und (anonymisiert) über die Lernplattform teilen; zum anderen wurde ein Vorgehen nach der Grounded Theory (Stauss & Corbin 1990) vorgeschlagen, wonach in einem iterativen Vorgehen zwei Personen 60 + außerhalb des Seminars zum Thema interviewt werden sollten. Die sich daran anschließende Analyse sollte Aufschluss über mögliche Sinnstrukturen und Interpretationen des Begriffs geben. Dieser reflexiven Logik folgend, wurden nach und nach sechs Personen aus dem Bekanntenkreis der U3L-Studierenden interviewt. Die Interviewteilnehmenden wurden im Vorfeld gebeten, ein bis drei Bilder (z. B. Fotografien, Zeichnungen, Zeitungsausschnitte) zum Interview mitzubringen, deren Aussagekraft sie mit Sehnsüchten verbanden. Diese Methode kann den Erzählanreiz stärken und ermöglicht der interviewten Person, das Thema zu steuern. Für unerfahrene Interviewende erlaubten die Bilder Orientierung und Einblicke in die Wirklichkeit der interviewten Person sowie Unterstützung bei der Aufrechterhaltung des Erzählflusses. Gespräche über Bilder während der Interviews setzten einen Reflexionsprozess für beide Teilnehmenden in Gang, der auch in der sich daran anschließenden Phase der Sinnrekonstruktion von Bedeutung ist (Guenette & Marshall 2009).

Die Datenanalyse erfolgte induktiv themenzentriert. In Kleingruppen wurden die einzelnen Interviewtranskripte kodiert und im Plenum wurden gemeinsame Themen entwickelt. Auch divergierende Fälle wurden dargestellt. Für die U3L-Studierenden stellte sich die Herausforderung, mit ihrem eigenen Verständnis von Sehnsucht und den Ambivalenzen dem Interviewmaterial gegenüber umzugehen. Als Forschende und als Personen mit mehr Abstand zum Thema unterstützten die MA-Studierenden die U3L-Studierenden in diesem Prozess, sodass bis zur Abschlussveranstaltung acht Themenschwerpunkte (Gesundheit, Weltfrieden/privat Frieden schließen, das Nicht-Gelungene annehmen, Altern gestalten, Partnerschaft, Zeitlichkeit, Respekt für die Arbeit anderer, entschleunigtes Reisen) vorgestellt werden konnten. Die Resonanz, die alle Beteiligten in der Abschlussveranstaltung erfuhren, war groß, nicht nur durch die hohe Besucherzahl, sondern auch durch den Zuspruch zu den Ergebnissen des Projekts und der Art des Vorgehens. In Unterhaltungen vor den Stellwänden, mit Bildern und Zitaten aus den Interviews, diskutierten Besucher*innen mit Beteiligten die Inhalte, wobei das Thema des Gehörtwerdens (durch den partizipativen Prozess) von vielen angesprochen wurde.

6 Fazit

Mit dem wachsenden Anteil der Generation der Bildungsjahrgänge steigt vor allem an den Seniorenuniversitäten der Anteil der Studierenden mit höheren formalen Bildungsabschlüssen. In der Regel sind es aber Ältere, die noch keinen Zugang zu sozialwissenschaftlicher Forschung oder gerontologischen Themen haben. Sie nutzen diese Seminarangebote für sich, um spezifische Fragen ihrer Biografie, ihrer Lebenserfahrungen oder ihrer Sorgeorientierungen im Älterwerden zu thematisieren und dabei ihre eigenen Erfahrungen mit wissenschaftlicher Datenerhebung und Reflexion zu verknüpfen. Zu beobachten ist, dass über die Themen wie Übergang Beruf-Ruhestand, Geschlechterverhältnisse oder Suchprozesse zum Älterwerden, das Bedürfnis nach Orientierungswissen und Anpassung an veränderte Lebensbedingungen sichtbar wird.

Gleichzeitig stellt der Bildungsgrad auch ein Hemmnis zur Teilhabe an Bildungsangeboten im Alter dar. Menschen mit niedrigem Bildungsstand sind in vielen Formen der informellen Bildung im Alter unterrepräsentiert (Lottmann 2013). Eine intersektionale Perspektive zeigt, dass weitere soziale Differenzen (z. B. Migrationserfahrung, sexuelle Orientierung) ein Fernbleiben von Bildungsangeboten verstärken können (Misoch 2017). Bildungsangebote, die sich spezifisch auf Personen einer Differenzkategorie konzentrieren, reagieren auf Bedürfnisse, sich nicht für Lebensweise oder Erfahrungen rechtfertigen zu müssen. Gleichzeitig wirken solche Angebote einer gesellschaftlichen Integration entgegen. Für die Bildungssettings im Alter bleibt daher noch viel Raum für Veränderung: nicht nur in Bezug auf die heterogenen Bedürfnisse nach reflexiven Lernarrangements, sondern zur Stärkung von Partizipation und Inklusion in allen Bildungssettings im Alter.

Literatur

Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) (2022). Positionspapier: Bildung im Alter – für alle ermöglichen. Bonn. https://www.bagso.de/publikationen/positionspapier/bildung-im-alter-fuer-alle-ermoeglichen/.

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Autorin und Autor

Dr. Miranda Leontowitsch, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Interdisziplinäre Alternswissenschaft am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Dr. Hans Prömper, Dipl.-Päd., Dozent für Soziale Gerontologie zu den Themen Altersbildung, Männer und Altern an der Universität des 3. Lebensalters an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Review

Dieser Beitrag wurde nach der qualitativen Prüfung durch die Redaktionskonferenz am 5. Mai 2022 zur Veröffentlichung angenommen.

This article was accepted for publication following the editorial meeting on the 5th of May 2022.