Subjekt und Subjektentwicklung im erwachsenenpädagogischen Diskurs

1 Einleitung

Ohne eine Vorstellung vom Subjekt ist die Rede über Bildung nicht möglich. Nicht zuletzt deshalb wurden und werden in der Erwachsenenbildung verschiedene Subjektmodelle seit Jahrzehnten leidenschaftlich diskutiert. Im Mittelpunkt stehen Fragen wie: Was ist das Subjekt und wie lässt es sich durch eine subjektivitätsfördernde bzw. subjektorientierte Bildung entwickeln? Die verschiedenen Subjektmodelle repräsentieren unterschiedliche Vorstellungen davon, was ein Subjekt ausmacht und wie sich das Subjekt entwickeln lässt. Als gemeinsamer Nenner in der Erwachsenenpädagogik kann gelten, dass das Subjekt nicht solipsistisch gedacht wird, sondern immer schon eingebunden in soziale Strukturen, die es einerseits erzeugt und andererseits als Grundlage für die Entwicklung von Subjektivität benötigt. Subjekt und Gesellschaft sind in den verschiedenen Subjektmodellen stets verbunden, wenn auch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Einmal steht das Subjekt mehr im Zentrum des Geschehens, das andere Mal dominieren Strukturen. Es geht also im erwachsenenpädagogischen Diskurs nicht um das autonome Subjekt oder das Subjekt als Nullpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung.

Im Folgenden werden vier unterschiedliche Modelle von Subjektivität und Subjektentwicklung vorgestellt (Kritische Theorie; Konstruktivismus; Poststrukturalismus; Subjekttheorie) und entlang verschiedener Kriterien verglichen: Was ist das Subjekt? Wie wird Subjektentwicklung entworfen? Welche Rolle spielt die Biografie bzw. die Identität bei der Subjektentwicklung? Welche didaktischen Modelle folgen daraus in einer bildungspraktischen Perspektive und in welcher Weise wird das Subjektmodell empirisch-forschend untermauert?

Der Vergleich beschränkt sich auf den erwachsenenpädagogischen Diskurs, wie er vor allem zwischen den 1990er- und 2010er-Jahren geführt wurde. Ziel ist ein bes­seres Verständnis der getroffenen Annahmen in den verschiedenen didaktischen Modellen und Bildungskonzepten. Vielleicht stößt dieses Heft den Diskurs wieder stärker an? Auf das subjekttheoretische Modell wird hier etwas ausführlicher eingegangen, weil damit gezeigt werden kann, wie das theoretische Modell mittels empirischer Forschung erweitert wird.

2 Die Bildung zum Subjekt als Gegenmacht

Das Subjekt wird bei Erhard Meueler als ambivalent gekennzeichnet. Es steht einerseits für eine eigene Lebensgestaltung, für freiheitliches Denken, Fühlen und Handeln, für Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung und Widerständigkeit (Meueler 2010, S. 274). Andererseits gilt dieses Subjekt als unterworfen, verstrickt in äußerlich-natürliche, innerlich-mentale und soziale Zwänge. Freiheit und Zwang bilden ein Spannungsverhältnis, an dem sich die Subjekte abarbeiten.

Subjektentwicklung bzw. die „Bildung zum Subjekt erfolgt immer dann, wenn es zum Wachstum all jener Kräfte, Fähigkeiten und Fertigkeiten, zur Zunahme von Kenntnissen, Einsichten und Einstellungen kommt, die die bloße Funktionalität des Subjekts in der totalen Marktgesellschaft übersteigen“ (Meueler 2018, S. 1388). Subjekt ist für Meueler ein Programmbegriff der Gegenmacht (Meueler 2009, S. 89). Meueler gründet sein Subjektverständnis auf die Idee der Aufklärung und auf die Kritische Theorie. Demnach ist die Bildung zum Subjekt ein Kampf gegen Ökonomisierung und für mehr Freiheiten. Im Sinne einer „Selbstaufklärung“ (ebd. 2009, S. 164) gilt es die Funktionalität des Subjekts in der totalen Marktgesellschaft zu reflektieren und transparent zu machen. Die emanzipatorische und die funktionale Seite der Subjektivität sind dabei unauflösbar miteinander verschränkt. Die Lernsubjekte stehen nach Meueler immer in diesem Spannungsverhältnis von Funktion und Emanzipation.

Diese Selbstaufklärung und Selbstbildung sind ein Prozess der Welt- und Selbstverständigung (ebd. 2018, S. 1388) und zielen auf ein besseres Verstehen der Gesellschaft und der eigenen Identität. Vom Subjekt wird erwartet, dass es seine Welt- und Selbstverhältnisse gegenüber anderen artikulieren kann. Identität ist für Meueler (2009, S. 64) eine Ich-Leistung, die ständig erbracht werden muss und die dem Subjekt als Bürde aufgegeben ist: Trotz Anpassung an die Erwartungen der Gesellschaft soll eine eigenständige Linie entwickelt und erkennbar werden, mit der sich das Subjekt mit der Gesellschaft auseinandersetzt. Diese Kontinuität erzeugt als Selbstverhältnis ein biografisches Bewusstsein.

Für Meueler stellt sich die Frage, wie Lernende mit ihren unterschiedlichen Biografien und Lebensbedingungen unterstützt werden können. Seine sozialphilosophischen Reflexionen zum Subjekt sollen ein Bildungskonzept für eine kritische Erwachsenenbildung begründen. Eine empirische Forschung zu Bildungs- und Lernprozessen verfolgt Meueler nicht.

Die Chance einer problemorientiert kritischen, auf Stärkung des Subjekts bedachten Erwachsenenbildung besteht darin, das „vorphilosophische Bewußtsein“ aus seiner Naivität zu befreien und die Bedingtheit durch die Umwelt transparent zu machen (Meueler 1990, S. 129). Dabei hat Lehre nicht automatisch Lernen zur Folge (Meueler 2018, S. 1191 ff.). Lernen und Bildung als Prozesse der Welt- und Selbstverständigung sind vielmehr Prozesse der Selbstbildung. Wenn Lernende nicht lernen wollen, bleibt jede Mühe umsonst.

Meuelers zentrales didaktisches Szenario ist der Lehr-Lern-Vertrag, mit dem in der Seminargruppe ein dialogisches Beziehungsmodell aufgebaut werden soll (2009, S. 212). Die Lernenden sollen angeleitet werden, für ihre erfahrenen Widersprüche nach relevanten theoretischen Erklärungen zu suchen (2018, S. 1398) und sich neuem Wissen zuzuwenden, das die Lehrenden anbieten. Zugleich gilt es für die Lehrenden „offen zu sein für die sozialen und emotionalen Bedürfnisse der potentiellen Lern-Subjekte“ (ebd., S. 1399). Mithilfe des Lehr-Lern-Vertrages werden die Inhalte und Methoden gemeinsam von Lernenden und Lehrenden bestimmt. An dieser Stelle wäre kritisch zu prüfen, ob in diesem Dialog die Gegenmacht der lernenden Subjekte gegenüber der Macht der Lehrenden noch eine Chance hat und wie mit der Widerständigkeit der Lernenden umgegangen wird.

3 Das selbstreferenzielle Subjekt

Aus konstruktivistischer Perspektive wird das Subjekt als ein selbstreferenzielles System betrachtet (Arnold 1996), das operational geschlossen ist und einer Eigenlogik folgt. Die konstruktivistische Perspektive basiert auf der Systemtheorie. Rolf Arnold und Horst Siebert (2006) sind die bekanntesten Vertreter des Konstruktivismus in der Erwachsenenpädagogik. Das Subjekt wird hier dezentriert und nicht wie bei Meueler in den Mittelpunkt gestellt. Dezentrierung bedeutet, dass die Systemstrukturen in den Vordergrund gerückt werden, ohne das Subjekt ganz zu verdrängen. Strukturen im Kontext anregender Situationen können in den Subjekten, die als „autopoietische Einheiten“ (Arnold 1996, S. 725) gelten, zwar Veränderungen anstoßen, diese aber nicht determinieren. Vielmehr wird das Wissen vor dem Hintergrund der eigenen biografischen Erfahrungen selbst konstruiert. Lernen ist also ein Konstruktionsprozess. Arnold geht von einer didaktischen Selbstorganisation der Lernenden aus. Diese Selbstorganisation kann von den pädagogisch Handelnden nur ermöglicht, aber nicht erzeugt werden (ebd., S. 722).

Wohin die Prozesse der Selbstorganisation des Subjekts im Sinne einer Subjektentwicklung zielen, kann letztlich nicht gesagt werden. Pädagogische Vermittlung wird in diesem Modell zu einem ungewissen Prozess, denn es lässt sich nicht sagen, in welcher Weise die Lernenden das in anregenden Lernsituationen eingelagerte Wissen für sich neu konstruieren. Ein Verstehen zwischen Lehrenden und Lernenden gilt als unmöglich, da die beiden Systeme in ihrer Eigenlogik geschlossen sind. Die Lernprozesse und Lernergebnisse sind aus konstruktivistischer Perspektive „letztlich nicht mitteilbar“ (Arnold 2004, S. 242). Subjektentwicklung lässt sich auf diese Weise nicht thematisieren.

Die Radikalität dieser konstruktivistischen Position zur Unmöglichkeit des Verstehens und der Mitteilbarkeit nimmt Arnold in seiner Monografie „Selbstbildung“ (2010) ein Stück weit zurück. Er denkt dort Bildung vom Subjekt und von der Aneignung her. Das Subjekt und die Lernprozesse lassen sich in der neuen Fassung prinzipiell verstehen. Bildung wird als Selbstbildung, d. h. als ein Prozess der personalen Selbstgestaltung (2010, S. 13) gefasst. Die Selbstgestaltung des Lebenslaufs wird zu einem Grundthema „einer bildungstheoretischen Neuorientierung“ (ebd., S. 14). Pädagogik ist für Arnold eine „Subjektwissenschaft, die Auskunft zu geben versucht, wie der Mensch zum Subjekt wird und sich dabei mit sich selbst und den anderen in Beziehung setzt“ (ebd., S. 49). Subjektentwicklung gilt jetzt im Unterschied zu den konstruktivistischen Anfängen als mitteilbar und als eine Aufgabe, die Verstehen erfordert. Mit dieser neu gewonnenen Perspektive zentriert Arnold das Subjekt. Wenn in den Arbeiten der 1990er-Jahre die Aufklärung noch mit dem Objektivierungsfehler konnotiert war, erhält sie jetzt – auch unter Bezugnahme auf Erhard Meueler – einen prominenten Rang: „Erziehung und Bildung sind…unabgeschlossene Projekte, solange die pädagogische Aufklärung unvollendet bleibt“ (ebd., S. 25). Auch in diesem Modell ist die Aufklärung das Ziel der Subjektentwicklung. Eine gesellschaftstheoretische Fundierung des Aufklärungsprozesses wird im Unterschied zu Meueler nicht angeboten.

Die didaktischen Konsequenzen des konstruktivistischen Modells laufen darauf hinaus, die Autonomie der Lernenden durch die Rücknahme des Fremdbestimmungsanspruchs der Erwachsenenbildner, gefasst in deren Bildungskonzepten, zu stärken. Die Rücknahme der Erwachsenenbildner*innen besteht z. B. in der Umwandlung von Lernanforderungen in Lernangebote. Erst durch solche didaktischen „Rücknahmemodelle“ – wie z. B. der Ermöglichungsdidaktik – würde das Lernen der Erwachsenen überhaupt erst möglich (vgl. Arnold 2001, S. 85). Weil die Erfahrungen der Lernenden je nach Biografie unterschiedlich sind gilt es für die Lehrenden, anregende Situationen bereitzustellen, die dann von den lernenden Subjekten auf der Grundlage ihrer biografischen Erfahrungen genutzt werden können.

Es existieren nur wenige empirische Untersuchungen mit einem konstruktivistischen Lern-/Bildungsmodell. Ingeborg Schüssler (2007) untersuchte z. B. die nachhaltige Nutzung von Lernergebnissen.

4 Das poststrukturalistische Subjekt

„Der Poststrukturalismus impliziert, anders als gemeinhin unterstellt, eine Subjekttheorie“ (Wrana 2006, S. 3). Das Subjekt gilt aus poststrukturalistischer Perspektive weder als autonom noch als intentionales Handlungszentrum. Aus poststrukturalistischer Sicht stehen die Praktiken, mit denen es produziert und transformiert wird, im Mittelpunkt – nicht das Subjekt. Praktiken sind Handlungsweisen, „die nicht isoliert und auf den Willen des Subjekts bezogen, sondern als gesellschaftlich verteilte und geteilte Praxen betrachtet werden“ (ebd. 2006, S. 3). Das Subjekt ist in diesem Modell dezentriert und rückt an den Rand der Betrachtung.

Das poststrukturalistische Modell setzt sich zum Ziel, die über Praxen hergestellten Subjektordnungen empirisch-analytisch herauszuarbeiten (Wrana 2015, S. 38). Es ist ein Modell, dessen Erträge sowohl in der Praxis als auch in der Empirie liegen. Mit den empirischen Arbeiten werden Subjektordnungen identifiziert, „die mit, an und von Subjekten vollzogen werden“ (Wrana 2015, S. 36). Die Erwachsenenbildungspraxis gilt als eine Subjektivierungspraktik, deren Formierung zur Selbstverantwortung es zu untersuchen gilt. Die Wissenschaft von der Erwachsenenbildung hat dabei die Aufgabe herauszuarbeiten, wie Subjekte hergestellt werden (Wrana 2015, S. 36). In der Erwachsenenbildungspraxis findet sich mit Wrana „eine ganze Kunst der Aktivierung, der subtilen Kontrolle, der Einflussnahme auf das Subjekt“ (2006, S. 58 f.). Wranas (2006) empirische Analysen zeigen, dass sich die Lernenden der Zumutung entziehen, sich offenzulegen. Reflexive Haltungen zum eigenen Lernprozess werden nur selten sichtbar. Mit dem poststrukturalistischen Modell arbeiten in der Erwachsenenbildung Hermann Forneck (2006), Ulla Klingovsky, Peter Kossack und Daniel Wrana (2010).

Im Unterschied zum Modell der Gegenmacht und zum konstruktivistischen Modell zielt das poststrukturalistische Modell auf eine empirische Lernforschung und auf Bildungspraxis. Grundlage für die empirischen Untersuchungen ist eine poststrukturale Lerntheorie, die Lernen als Aktivität der Strukturierung versteht. Lernen findet statt, wenn gegebene Strukturierungen neu strukturiert werden. Diese Aktivität wird dabei nicht von einem aktiv handelnden Subjekt her gedacht, sondern von kulturellen Praktiken des Strukturierens. Nicht „Strukturen“ als statische Netze von Relationen, sondern „Strukturierungen“ als dynamische, zentrumslose und damit grundlegend heterogene Bewegungen stehen im Mittelpunkt. Lernhandlungen werden als Realisieren einer Lesart betrachtet. Lesarten sind Strukturierungsleistungen, an deren Ende die eigensinnige Deutung eines Lerngegenstandes möglich wird.

Der Eigensinn und die Unvorhersehbarkeit der Lernprozesse entstehen durch die biografische Abarbeitung gesellschaftlicher Diskurse, wobei habituelle Strukturierungen erworben werden (Wrana 2008, S. 24). Diese Strukturierungsprozesse erhalten biografische Bezüge, wenn die Lerngegenstände auf die Zukunft oder die Vergangenheit bezogen werden (ebd., S. 23). Ein Bezug, der in fast allen Lernprozessen aufscheint, wenn man davon ausgeht, dass Strukturierungsprozesse in der Vergangenheit ihren Ausgangspunkt nehmen und auf zukünftige Handlungsfähigkeit zielen.

Das Ziel einer poststrukturalistischen Didaktik der Selbstsorge sind qualitativ anspruchsvolle selbstgesteuerte Lernprozesse, die als eine Technik der Selbstsorge verstanden werden (Klingovsky & Kossack 2007, S. 77). Die Didaktik der Selbstsorge ist eine Architektur, die aus drei Elementen besteht: der Selbstlernarchitektur (mit Inszenierungen und Selbstlernmaterialien), der Lernberatung und der Prozesssteuerung. Das didaktische Ziel soll durch die reflektierte Relationierung selbstgesteuerter und fremdgesteuerter Aktivitäten im Lehr-Lernverhältnis (Ludwig 2010, S. 206) erreicht werden. In der Bildungspraxis schiebt sich das Subjekt also wieder ins Zentrum des Geschehens. Die Selbstlernarchitektur wurde in verschiedenen Feldern der Bildungspraxis realisiert und evaluiert (Ludwig 2012a). z. B. wurden einzelne Semester des Primarlehrer*innen-Studiums an der Pädagogischen Hochschule der Nordwestschweiz mit online-gestützten Selbstlernarchitekturen und mit Lernberatung durchgeführt.

Die Selbstlernarchitektur als Inszenierung von Selbstlernmaterialien im Lehr-Lernverhältnis weist auf den ersten Blick eine Ähnlichkeit mit der Ermöglichungsdidaktik auf. Geht es im konstruktivistischen Modell doch auch um Lernangebote, die den Lernenden zur Wahl stehen. Tatsächlich grenzt sich das poststrukturalistische Modell kategorisch vom konstruktivistischen Modell ab. Der Ermöglichungsdidaktik wird inhaltliche Beliebigkeit vorgeworfen. Der Legitimationshorizont der Inhalte würde allein bei den Lernenden liegen. Im poststrukturalistischen Modell ginge es demgegenüber um eine reflektierte Relationierung selbstgesteuerter und fremdgesteuerter Aktivitäten.

5 Das gesellschaftlich vermittelte Subjekt

Das Subjektmodell der „Subjektwissenschaft“ geht auf die kritische Psychologie Klaus Holzkamps (1983; 1993) zurück. Er bezieht sich sowohl auf den dialektischen Materialismus als auch auf den Symbolischen Interaktionismus. Das Subjekt gilt in diesem Modell über Bedeutungen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen vermittelt. Bedeutungen sind gesellschaftlich geschaffene verallgemeinerte Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen. Bedeutungen wiederum entstehen über Handlungen als Verbindung der individuellen Existenzsicherung (Holzkamp 1983, S. 237) mit der gesellschaftlichen Produktion im Rahmen und außerhalb gesellschaftlich organisierter Arbeit (Holzkamp 1983, S. 233 f.). Im Mittelpunkt dieses Subjektmodells stehen die Handlungen und Handlungsmöglichkeiten der Subjekte, die in einem gesellschaftlich gegebenen Möglichkeitsraum stattfinden. Welche gesellschaftlich gegebene Möglichkeit vom Subjekt gewählt und in Handlungen umgesetzt wird, hängt von den individuellen Gründen und Lebensinteressen ab.

Das Subjekt ist also über Bedeutungen und Bedeutungsstrukturen immer schon gesellschaftlich vermittelt, es ist stets ein gesellschaftliches Subjekt. Die gesellschaftliche Vermitteltheit bezieht sich dabei sowohl auf die vorhandenen aktuellen individuellen Vermittlungsweisen als auch auf die nicht realisierten, aber möglichen Vermittlungsverhältnisse. Die gesellschaftliche Vermitteltheit des Subjekts umfasst damit nicht nur die Struktur, sondern den Bezug der individuellen Handlungsbegründung auf die Struktur, um die besondere subjektive Realisierung der gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen bzw. der gesellschaftlichen Verfügungsmöglichkeiten im individuellen Handeln zu erfassen. Holzkamp geht wie die „Hermeneutische Wissenssoziologie“ (Hitzler, Reichertz, Schröer 1999) im Anschluss an Schütz davon aus, dass Menschen in einem historisch konkreten lebensweltlichen Interaktionsraum handeln, der durch Bedeutungsstrukturen charakterisiert ist und auf den sich die handelnden Menschen entsprechend ihrer unterschiedlichen biografischen Erfahrungen beziehen.

Die Entwicklung von Subjektivität zielt auf die Erweiterung gesellschaftlicher Teilhabe und verläuft über Lernen. Die Erweiterung gesellschaftlicher Teilhabe ist mit der Erweiterung der eigenen Handlungsfähigkeit gekoppelt. Lernen ist mit Holzkamp ein Selbstverständigungsprozess, den das Subjekt unternimmt, um sich von seinem Subjektstandpunkt aus selbst zu verständigen und sich zugleich über die eigene Position in der Gesellschaft klarer zu werden. Es geht also immer um zweierlei: erstens um die Aneignung neuen Wissens und zweitens um das Begreifen der eigenen gesellschaftlichen Vermitteltheit, die zeigt, wo das Subjekt in der Gesellschaft steht. Indem Holzkamp Lernen als Welt- und Selbstverständigungsprozess versteht, rückt er den Lernbegriff an den Bildungsbegriff heran, obwohl er als Psychologe den Begriff Bildung nicht explizit verwendet. Welt- und Selbstverständigung1 wird erforderlich, wenn es gilt, vorhandene Handlungseinschränkungen, biografische Umbrüche, Krisen, Irritationen usw. zu überwinden und gesellschaftliche Teilhabe zu erweitern.

Die Lerntheorie Holzkamps wird in der Erwachsenenbildung für die Begründung didaktischer Konzepte und als Heuristik für empirische Untersuchungen verwendet. Selbstverständigung wird immer vom Standpunkt des einzelnen Subjekts gedacht. Didaktisch stehen deshalb nicht Seminargruppen im Vordergrund, sondern die Lernprozesse des einzelnen Subjekts. Lernberatung (Ludwig 2012b) ist so ein didaktischer Handlungsmodus, der in den Krisen und Irritationen seinen Ausgang nimmt und Subjektentwicklungsprozesse bzw. Teilhabeerweiterung unterstützt.

Empirische Untersuchungen zu typischen Grenzen und Chancen für Lernen und Subjektentwicklung finden sich z. B. bei Faulstich & Bracker (2015), Grell (2006), Ludwig (2000), Ludwig & Thomsen (2020). Kategoriale Erweiterungen der Holzkamp’schen Lerntheorie betreffen z. B. die Rolle der Anerkennung (Ludwig 2000), das Lernen im Lebenszusammenhang (Baldauf-Bergmann 2009), das Verhältnis von Lernen und Bildung (Ludwig 2014), eine neo-subjektwissenschaftliche Lesart (Grotlüschen 2014) und die Rolle der Biografie (Faulstich & Bracker 2015, Ludwig & Thomsen 2020).

Biografisch fundierte Handlungsproblematiken kommen bei Holzkamp im Unterschied zu aktuellen Handlungsproblematiken nicht zur Sprache. In unserer lerntheoretisch fundierten Bildungsprozessforschung haben wir aber im Projekt „transform“ typische Verbindungen von aktuellen und biografisch begründeten Handlungsproblematiken gefunden (Ludwig &Thomsen 2020, S. 269). So zeigt die Fallrekonstruktion Lisa in einem Tanzprojekt, dass sie über Jahre hinweg mehrfach aus Tanzkursen ausgeschlossen wurde. Lisas Handlungsproblematik lässt sich als Konglomerat aus tänzerischem Misserfolg und sozialem Ausschluss beschreiben. Mit dieser Handlungsproblematik verbindet Lisa eine Diskrepanzerfahrung, die bereits während Lisas Kindheit und Jugend wiederholt auftritt. Sie kann deshalb als biografisch relevante Handlungsproblematik gelten, die einem biografischen Muster folgt. Damit wäre die Holzkamp’sche Lerntheorie um die Kategorie „biografische Handlungsproblematik“ erweitert.

Auch wenn Holzkamp die biografischen Handlungsproblematiken nicht zum Thema macht, so weist er der Biografie der Lernenden in seiner Lerntheorie einen zentralen Stellenwert zu. Die Biografie fundiert die „personale Situiertheit“ (Holzkamp 1993, S. 267). Die personale Situiertheit verweist mit ihren „biographischen Lernmustern“ (Faulstich/Bracker 2015, S. 21) darauf, dass die lernende Gegenstandsannäherung immer nur innerhalb der erfahrenen Grenzen der personalen Situiertheit zur Welt und zum Lernenden selbst möglich ist (Holzkamp 1993, S. 266 f.). Die biografisch unterlegte personale Situiertheit lässt sich im Anschluss an Peter Alheit auch als „biographische Selbstpräsentation“ (Alheit 2010, S. 230) und als Identität verstehen. Sie umfasst einerseits den Prozess der Internalisierung der Lebenswelt einer Person im Laufe der Sozialisation, also die „Außenprägung“ der Identität, und andererseits die Einordnung biografischer Erfahrungen in gewachsene Wissensbestände (Alheit 2010, S. 230). Auf Grundlage ihrer personalen Situiertheit könnte Lisa fragen: „Ist der Besuch eines weiteren Tanzkurses noch etwas für mich? Stehe ich das durch?“ Sie könnte aber auch fragen: „Ist die neue Kombination von Musik, Körpergefühl und Bewegung hier im Kurs eine Chance für mich?“

6 Fazit

Vergleicht man die vier Modelle, dann springt der Unterschied bei der empirischen Forschung ins Auge. Die Modelle Gegenmacht und selbstreferenzielles System kommen weitgehend ohne empirische Forschung aus, während das poststrukturalistische Modell die Subjektivierungspraxen analysiert und das subjekttheoretische Modell die Welt- und Selbstverständigungsprozesse der Subjekte untersucht. Mit empirischen Untersuchungen lässt sich das theoretische Modell weiterentwickeln, wie das Beispiel „biografische Handlungsproblematik“ im subjekttheoretischen Modell zeigt (Ludwig & Thomsen 2020).

Die Subjektmodelle Gegenmacht und gesellschaftliche Vermitteltheit sind handlungstheoretisch begründet, die beiden anderen systemtheoretisch bzw. strukturalistisch. Subjektentwicklung zielt in allen vier Modellen auf Aufklärung durch Welt- und Selbstverständigungsprozesse. Aufklärung wird dabei durchgängig als Relationierung von Selbst- und Fremdsteuerung verstanden, als Gegenmacht zur Ökonomisierung, als Reflexion der gesellschaftlichen Vermitteltheit, als didaktische Selbstorganisation oder als Reflexion der Neustrukturierung.

Die didaktischen Konzepte zeigen auf, dass die Relationierungen von Fremd- und Selbststeuerung unterschiedlich ausfallen. Im selbstreferenziellen Modell stehen anregende Lernmaterialien im Mittelpunkt, aus denen sich die Lernenden für sie passende Inhalte aussuchen können. Die Vertreter*innen des poststrukturalistischen Modells kritisieren dies als Beliebigkeit. In der Didaktik der Selbstsorge treten die pädagogisch Handelnden stärker fordernd auf. Sie bieten komplexe Inhalte an, welche die Lernenden verarbeiten sollen. Dieser Prozess wird mittels Lernberatung begleitet. Der Lehr-Lernvertrag im Modell Gegenmacht soll – mithilfe der pädagogisch Handelnden – bei den Lernenden eine Auseinandersetzung mit erfahrenen Widersprüchen anregen und relevante theoretische Erklärungen finden helfen. Lehrende und Lernende sollen sich dazu auf Augenhöhe begegnen. Im subjekttheoretischen Modell soll die gesellschaftliche Vermitteltheit mithilfe einer Lernberatung rekonstruiert und transparent werden. Dazu werden die subjektiven Handlungsproblematiken und Erfahrungen rekonstruiert und daran anschließend neues Wissen eingeführt.

Ziel des Beitrags ist ein besseres Verständnis der Subjektmodelle und ihrer Annahmen. Eine Weiterentwicklung dieser Modelle in der Erwachsenenpädagogik steht an. Dazu müsste der erwachsenenpädagogische Diskurs wieder aufgenommen werden. Kategoriale Klärungen und empirische Untersuchungen wären ein wichtiger Ausgangspunkt für den Diskurs.

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Autor

Joachim Ludwig, Prof. Dr. phil. habil., Professor für Erwachsenenbildung/Weiterbildung im Ruhestand an der Universität Potsdam.

Review

Dieser Beitrag wurde nach der qualitativen Prüfung durch das Peer-Review und die Redaktionskonferenz am 5. Mai 2022 zur Veröffentlichung angenommen.

This article was accepted for publication following a qualitative peer review and the editorial meeting on the 5th of May 2022.


Holzkamp spricht von „Welt- und Selbstbeziehung“ und ist damit einem Bildungsverständnis als Welt- und Selbstverständigung bzw. Welt- und Selbstverhältnis sehr nah (Holzkamp 1983, S. 237 f.).