1 Person, Subjekt, Kollektiv: Begriffsklärungen und Beziehungen
1.1 Lernen als pädagogischer Grundbegriff
Lernen ist ein pädagogischer Grundbegriff (Göhlich & Zirfas 2007). Er beschreibt, je nach Lesart, beispielsweise die Veränderung von Verhalten und Verhaltensdispositionen (so die viel zitierte, lernpsychologische Definition von Hilgard & Bower 1966, S. 17) oder, sehr allgemein, die Veränderung der Person (vgl. Jarvis 2006, S. 13). In zahlreichen theoretischen und empirischen Beiträgen wird diese Veränderung mit der Biografie verknüpft (vgl. Franz et al. 2017, S. 10). Lernen wird an körperliche bzw. leibliche Voraussetzungen gebunden (vgl. Meyer-Drawe 2008) und die in der verhaltenswissenschaftlichen Perspektive noch recht abstrakte Auseinandersetzung mit der Umwelt wird, um eine reflexive Perspektive ergänzt, zur „Veränderung von Selbst- und Weltverhältnissen (…), kurz gesagt: Lernen ist die erfahrungsreflexive, auf den Lernenden sich auswirkende Gewinnung von spezifischem Wissen und Können“ (Göhlich & Zirfas 2007, S. 17).
Die hier dargestellte Auswahl pädagogischer Positionen in der Diskussion um Lernen (umfassender vgl. z. B. Faulstich 2013; Illeris 2018; Grotlüschen & Pätzold 2020) liefert keine idealen Voraussetzungen, um ein pädagogisch fundiertes Konzept organisationalen Lernens zu entwickeln. Was soll bei Organisationen1 „Leiblichkeit“ sein, was genau wäre unter ihrer „Biografie“ zu verstehen und was bedeuten hier „Erfahrung“, „Wissen“ und „Können“? Insofern überrascht es nicht, dass organisationales Lernen im pädagogischen Kontext vielfach eher als Metapher (vgl. Zinth, 2010, S. 66) oder als „Sprachspiel“ (Faulstich 2013, S. 192) betrachtet wird, während in der nicht-pädagogischen Literatur in der Regel der zugrunde liegende Lernbegriff gar nicht geklärt und sonst zumeist sehr stark auf Prozesse der Wissensverarbeitung fokussiert wird (vgl. Göhlich, 2007a, S. 224).
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Anforderungen an „etwas, das lernt“ aus pädagogischer Perspektive auch noch anders beschrieben werden können als durch exklusiv menschliche Eigenschaften. Dieser Ansatz soll im Folgenden ausgeführt werden, indem gefragt wird, inwieweit die Merkmale von Personen oder Subjekten einerseits vom Menschen als Lernendem abstrahiert und andererseits auf Organisationen angewandt werden können, mit dem Ziel, das Repertoire pädagogischer Beiträge zum Lernen für die Betrachtung der lernenden Organisation zu erschließen. Mit anderen Worten geht es um die Frage, ob und wie Organisationen pädagogisch sinnvoll als lernende Entitäten aufgefasst werden können und was dabei theoretisch zu gewinnen ist. Dabei gerät insbesondere das Subjekt als Akteur des Lernens in den Blick.
1.2 Das Subjekt als Bezugskategorie menschlichen Lernens
Da „etwas, das lernt“ eine umständliche Formulierung und der Begriff „Entität“ recht voraussetzungsreich ist (und bei näherer Betrachtung durchaus ontologische Fragen aufwirft), besteht der Bedarf, hier eine tauglichere Bezeichnung zu wählen. Mitunter ist von Menschen oder von Lernenden die Rede, besonders häufig aber findet man über verschiedene pädagogische Teildisziplinen hinweg den Begriff Subjekt. Gemeint ist hier ein aktives Subjekt, also etwas, was von einem Sachverhalt betroffen ist und gleichzeitig auf diesen selbst Einfluss nehmen kann.2 Insbesondere in der Erwachsenenpädagogik wurde dieses Verständnis durch die intensive Rezeption der subjektwissenschaftlichen Psychologie und hier besonders der Monografie „Lernen“ von Klaus Holzkamp (Holzkamp 1993) weiter ausgeschärft. Holzkamps Zugang spielt dabei vor allem deshalb eine Rolle, weil er die Subjekthaftigkeit des Lernenden (bzw. des lernenden Menschen) als Aktivität der subjektiven Weltbegegnung ausarbeitet; der oder die Lernende empfängt nicht etwa ein (pädagogisches) Treatment aus der Umwelt, sondern interpretiert, nutzt, vermeidet oder beeinflusst jegliche Situation nach eigenen, subjektiven Bedürfnissen. Hiermit gelingt es unter anderem, wesentlich differenzierter die Zusammenhänge zwischen Lernsituation, Motivation und Lernergebnis zu formulieren.
Die Anregungen des Subjektbegriffs haben sich für die Pädagogik insgesamt als sehr fruchtbar erwiesen. Für die vorliegenden Überlegungen werden sie genutzt, um Merkmale zu bestimmen, die Organisationen aufweisen müssen, um als etwas Lernendes infrage zu kommen. Offensichtlich muss dabei von solchen Eigenschaften abstrahiert werden, die unmittelbar mit dem Menschsein verknüpft sind. So kann Subjektivität, die untrennbar mit den „sinnhaft-leibgebundenen Erfahrungen des Menschen“ (Müller 2020, S. 59) verwoben ist, Organisationen nicht sinnvoll zugesprochen werden, schon deshalb, weil sie eben keine Menschen sind. Organisationen sind auch nicht bloß als die Summe ihrer Mitglieder (oder deren Handlungen) zu verstehen, sondern stellen emergente Phänomene dar, die eigenen sozialen Logiken und Regeln folgen (vgl. Luhmann, 2000). Dazu gehört auch, dass sie ihre Mitglieder mit Erwartungen konfrontieren, die den Raum individueller Verhaltensmöglichkeiten einschränken. Mit anderen Worten: Organisationen betrachten die Subjektivität ihrer Mitglieder eher als Störquelle, die reguliert werden muss (vgl. Wendt 2020), auch wenn sie sich mitunter auch als produktiv erweisen kann. Wenn sie also Subjektivität aufweisen sollten, ist diese nicht unmittelbar aus der Subjektivität der Mitglieder abgeleitet. Lassen sich zentrale Aspekte von Subjektivität dennoch so beschreiben, dass das Konzept trotz des Spannungsverhältnisses zwischen (menschlichem) Subjekt und Organisation auch auf Letztere anwendbar ist? Im Folgenden sollen hierzu vier Merkmale betrachtet werden, die in Subjektkonzepten übergreifend als besonders relevant betrachtet werden können:
1.3 Biografie
Subjekte sind untrennbar mit ihrer eigenen Geschichte verbunden. Im Gegensatz zur bloßen Abfolge von Widerfahrnissen, die ein Objekt verändern und gestalten, ist das Subjekt Akteur der eigenen Geschichte, es kann sich beispielsweise bestimmten Einflüssen absichtsvoll aussetzen und andere vermeiden. Widerfahrnisse und Gestaltungsoptionen bilden ein dialektisches Spannungsfeld, innerhalb dessen das Subjekt sich verändert, und das eigentlich Überraschende ist dabei nicht die Veränderung, sondern die Kontinuität, mit der es seine Identität über diese Veränderungen hinweg bewahrt. Biografie bedeutet eben nicht, ein anderer oder eine andere zu werden, sondern sich über die Zeit hinweg gleichzeitig zu verändern und eine stabile Identität aufrechtzuerhalten (vgl. Franz et al. 2017).
Auch Organisationen sind Ereignissen ausgesetzt, die sie unmittelbar beeinflussen, die seitens der Organisation Reaktionen (wie Widerstand, Abwendung, Anpassung u. Ä.) evozieren. In der Begegnung mit solchen Ereignissen entsteht etwas, was menschlichen Erfahrungen sehr nahe kommt (vgl. Göhlich 2007b, S. 195; vgl. auch Schreyögg & Geiger 2016, S. 398). So kann eine Regulation in einem Markt dazu führen, dass Produktionsunternehmen im Widerspruch zu diesen Veränderungen bei ihrer Produktionspraxis bleiben, sie können sich aus dem neu gestalteten Markt zurückziehen (oder, im Gegenteil, diesen verstärkt bedienen) oder sie können durch die erforderlichen Anpassungsmaßnahmen in der eigenen Produktion die neuen Bedingungen mit sparsamem Aufwand adaptieren. Diese Reaktionen stellen organisationale Veränderungen dar (auch das Beharren unter sich verändernden Bedingungen darf nicht mit Kontinuität verwechselt werden) und auch die betriebswirtschaftliche Literatur sieht in diesem Sinne organisationales Lernen „als Theorie kontinuierlichen organisatorischen Wandels“ (Schreyögg & Geiger 2016, S. 393). Dem Wechselspiel von Identität und Veränderung kommt auch hier eine besondere Bedeutung zu, insofern Organisationen definitorisch als soziale Zusammenschlüsse verstanden werden, die, beginnend mit Webers Idealtypus der Bürokratie, durch Dauerhaftigkeit in Bezug auf die Erreichung bestimmter Ziele charakterisiert sind (vgl. ebd., S. 5 ff.; Kieser 2006). Es ist also konstituierend für Organisationen, dass sie sich einerseits verändern, andererseits aber eine dauerhafte Identität aufweisen, die sie über diese Veränderungen hinweg wiedererkennbar macht und letztlich auch die Grundlage dafür ist, dass sie sich als soziales System auf sich selbst beziehen können. Ein anschauliches Zeugnis hiervon liefern z. B. die zahlreichen Formen, mit denen sich Organisationen – mal feierlich positiv, mal kritisch-demütig – mit ihrer Geschichte auseinandersetzen. Unübersehbar ist dabei im Übrigen die Ähnlichkeit solcher Darstellungen mit manchen biografischen Texten.
1.4 Leiblichkeit
Bereits in der wachsenden Diskussion um die Bedeutung des Körpers beim Lernen kann eine Reaktion gesehen werden, die einem reduktionistischen Verständnis von Lernen als bloße Informationsverarbeitung entgegentritt. Noch einen Schritt weiter gehen Beiträge in der Tradition der Phänomenologie, die die Rolle des Leibes im Zusammenhang mit Lernen herausarbeiten (vgl. Liebau 2007). Zentral ist dabei die Idee, dass der Leib, anders als der Körper, mehr als nur eine Rahmenbedingung für Lernen, sondern untrennbar in den Lernprozess eingewoben ist. „Der Mensch ist nicht ein Wesen, das denkt und auch einen Leib hat, sondern er ist ein leibliches Wesen, das denkt“ (Meyer-Drawe 2008, S. 173).
Auch hier ist die unmittelbare Übertragung auf Organisationen nicht möglich – einen Leib im phänomenologischen Sinne haben sie nicht. Allerdings lassen sich Parallelen zu einer Diskussion ziehen, die mit dem Begriff Soziomaterialität überschrieben ist (vgl. Fenwick & Edwards 2013; Schreyögg & Geiger 2016, S. 258). Aus verschiedenen Perspektiven eint diese Ansätze der Anspruch, die Bedeutung materieller Gegebenheiten bei der Betrachtung pädagogischer – oder auch organisationaler – Prozesse zu würdigen. So ist Lernen für Fenwick und Edwards „a materializing assemblage and not simply a cognitive achievement or way of interacting. It is through the being-together of things that actions identified as learning, become possible“ (Fenwick & Edwards 2013, S. 54). Betrachtet man Organisationen nicht nur als Regelsysteme oder soziale Systeme, sondern berücksichtigt, dass sie sich in vielfältiger Weise materialisieren (etwa durch Gebäude, Dokumente, Fahrzeugflotten, Dienstbekleidung und vieles anderes mehr), so lässt sich auch hier feststellen, dass dieser materiale Kontext mehr als eine bloße Lernbedingung darstellt. Wiewohl es nicht sinnvoll erscheint, im Zusammenhang mit Organisationen von einem Leib zu sprechen, zeigt sich bei dieser Betrachtung von Materialität in ähnlicher Weise das angesprochene Muster einer wechselseitigen Verflochtenheit.
1.5 Verantwortungsfähigkeit
Verantwortung wird abstrakt häufig als mehrstellige Relation verstanden (vgl. Lenk & Maring 2001), d. h. jemand ist gegenüber einer anderen Person für etwas (einen „Gegenstand“) verantwortlich. Mitunter kommen weitere Relata (z. B. eine Sanktionsinstanz) hinzu. Orientiert man sich an einem stärker juristisch geprägten Verantwortungsverständnis, so rücken die Möglichkeit zur Aktion (oder zur Unterlassung) und die Sanktionierbarkeit des Verantwortungsträgers in den Blick. Es ist bemerkenswert, dass in diesem Zusammenhang sogar der Begriff der Person selbst für Organisationen aufgegriffen wurde, indem diese als „juristische Personen“ fungieren können (vgl. zur sozialhistorischen Bedeutung dieser Entwicklung Türk 2010, S. 19). Damit wird im Rechtssystem sichergestellt, dass Organisationen als solche z. B. Grundbesitz erwerben, Geschäfte machen, Verträge schließen und auch haften können.3 Insofern können Organisationen mit gewissen Einschränkungen als verantwortungsfähig aufgefasst werden. Bezogen auf Lernen bedeutet das beispielsweise, dass sich der Umgang mit der Verantwortung eines organisationalen Lernprozesses auch in der Organisation selbst zeigt – scheitert sie beispielsweise bei der Anpassung an veränderte rechtliche Rahmenbedingungen, so wirkt sich das in der Organisation aus, z. B. durch rechtliche Sanktionen, strategische Nachteile, den Rückgang von Umsätzen usw. Schreibt man der gesamten Organisation die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung zu, verschiebt sich damit zugleich der pädagogische Blick: Wenn die Gesamtorganisation für Erfolge bzw. Misserfolge verantwortlich ist, reicht es womöglich nicht aus, nur einzelne Mitglieder (z. B. „klassische“ Verantwortungsträger*innen des oberen und mittleren Managements) mit Lernerwartungen zu konfrontieren oder deren Lernprozesse zu erforschen. Stattdessen wäre zu fragen, wie (gesamt-)organisationales Lernen im Dreieck von Wissensmanagement, Organisationskultur und Organisationsumwelt vonstatten geht, bzw. zu gestalten ist.
1.6 Reflexionsfähigkeit
Die Selbstbeobachtung von Organisationen ist ein zentrales Element zahlreicher jüngerer Konzepte der Organisationsentwicklung und -gestaltung. Während in frühen Organisationstheorien die Gestaltung der Organisation primär als Resultat von Leitungsentscheidungen betrachtet wurde, rückte später zunehmend die Bedeutung der Selbstorganisation in den Blick. Damit wurde auch klar, dass die Leistungsfähigkeit von Organisationen nicht primär über Inputfaktoren gesteuert werden konnte. Den augenfälligsten Ausdruck dieser Entwicklung stellen Qualitätssicherungssysteme dar, die in erheblichem Umfang darauf abzielen, dass in Organisationen Informationen über die Organisation selbst gesammelt, verarbeitet und zur Grundlage von Entscheidungen gemacht werden. Sie geraten dabei durchaus in ein Spannungsverhältnis zu anderen organisationalen Praktiken (vgl. Bruns 2017), hierin erweist sich aber gerade auch ihre eigenständige organisationale Bedeutung. Neben der Qualitätssicherung dienen viele andere organisationale Verfahren ebenso dazu, dass Organisationen Aufschluss über sich selbst gewinnen, und es fällt auf, dass hierbei regelmäßig betont wird, dass die Ergebnisse in die Organisation zurückgespielt werden müssen.
1.7 Organisationen als Subjekte
Organisationen – und andere Kollektive – weisen Eigenschaften auf, die strukturell stark denjenigen ähneln, die die Pädagogik bei (menschlichen) Subjekten als Voraussetzung für Lernen betrachten. Sie sind in der beschriebenen Weise Träger einer identitätswahrenden Geschichte, sie weisen eine für Lernen relevante Art von Materialität auf, sie sind gültige Adressaten für die Zuschreibung von Verantwortung und sie können über wirksame Verfahren der Reflexion verfügen. Diese Aufzählung von Eigenschaften ist keine abschließende Liste notwendiger Voraussetzungen von Lernen, aber sie begründet die Behauptung, dass Organisationen ein ihnen spezifisch eigener Status als Subjekten zugeschrieben werden kann, der es möglich macht, analytisch sinnvoll von Organisationen als lernenden Subjekten zu sprechen. Dabei gilt die angesprochene Einschränkung: Wenn für bestimmte Subjekteigenschaften Definitionsmerkmale verwendet werden, die untrennbar mit menschlicher Existenz verbunden sind (z. B. Leiblichkeit), ist diese Argumentation nicht haltbar; aber es erscheint möglich und sinnvoll, auch alternative Definitionsmerkmale zu verwenden, die dann eben organisationales Lernen als Lernen von Subjekten fasst. Damit kann es mit pädagogischen Mitteln beschrieben werden und, was der eigentliche Ertrag derartiger Überlegungen ist, es besteht die Möglichkeit, Ergebnisse pädagogischer Theoriebildung im Bereich Lernen auf Organisationen zu übertragen, indem überprüft wird, dass die in der Theorie vorausgesetzten Subjektmerkmale nicht über das für Organisationen Festgestellte hinausgehen.
1.8 Folgerungen für die pädagogische Erforschung und Gestaltung organisationalen Lernens
Als Wissenschaft mit einem Handlungsbezug referiert die Pädagogik mit ihren Theorien auf Gegenstände, die „in der Welt“ vorzufinden sind – Weiterbildungseinrichtungen, Lernende, Curricula, Prüfungen, Lehrende usw. Sie erhebt i. d. R. den Anspruch, auf reale Sachzusammenhänge bezogen zu sein und Ergebnisse zu liefern, die auch in außerwissenschaftlichen Kontexten nutzbar sind, beispielsweise in der erwachsenenpädagogischen Lehr-Lernforschung (vgl. Schrader & Hartz 2006). Ob es sinnvoll ist, von Organisationen als lernenden Subjekten zu sprechen, hängt also letztlich auch davon ab, ob ein derartiges Begriffsverständnis forschend und praktisch ergiebige pädagogische Zugänge zum Phänomen Organisation liefert, die mit bestehenden Theorien in Einklang zu bringen sind. Hierfür soll abschließend je ein Vorschlag gemacht werden, gleichzeitig werden hiermit auch Perspektiven der weiteren Forschung und Anwendung angedeutet.
Pädagogische Organisationsforschung: Ein großer Teil der Theoriebildung zum organisationalen Lernen bezieht sich auf Individuen und betrachtet organisationales Lernen als das bloße additive Zusammenwirken individueller Lernereignisse, evtl. intensiviert durch einen Austausch unter den Lernenden (vgl. Illeris 2010, S. 127), oder unterstellt Synergieeffekte als Folge von Komplexität (vgl. Fenwick et al. 2011, S. 22), ohne diese aber näher beschreiben zu können – was dazu führt, dass der Lernbegriff nur noch als Metapher verwendet werden kann (vgl. Zinth 2010, S. 66). Konkretisiert man hingegen das Verständnis von der Organisation, etwa als lernendes Subjekt, so lassen sich lerntheoretische Erkenntnisse für die Forschung auch jenseits bloßer Metaphorik fruchtbar machen. So können subjektbezogene Begriffe wie „Lernwiderstände“ (Faulstich 2013, S. 133) genutzt werden und es kann – analog zu der hier zitierten Studie – auch auf Organisationsebene analytisch beispielsweise gefragt werden: „Welche Möglichkeit bestand für die (Organisation, i. Orig.: Teilnehmerinnen und Teilnehmer), die Lernhandlung zu unterlassen?“ (ebd., S. 110). Analog lässt sich auf organisationaler Ebene untersuchen, welche Prozesse der Verarbeitung von Wissen stattfinden oder in welcher Rolle Organisationskultur regulative Wirkungen entfaltet, die auf individueller Ebene von Emotionen zu erwarten wären (vgl. Pätzold 2017). Insgesamt lassen sich also solche Aspekte des Lernens der Forschung zugänglich machen, die essenziell für pädagogische Theorien des Lernens sind, aber bei einer bloßen metaphorischen Betrachtung organisationalen Lernens nicht mehr präzise eingegrenzt und erfasst werden können.
Pädagogisch begründete Organisationsgestaltung: Es ist keine neue Erkenntnis, dass pädagogisches Handeln von der Nutzung von Theorie profitieren, nicht aber in deren unmittelbarer „Anwendung“ bestehen kann (vgl. St. Clair 2004). Insofern kann auch eine Theorie des organisationalen Lernens nicht beanspruchen, unmittelbar und zielsicher Gestaltungsentscheidungen begründen zu können, wohl aber, etwa im Sinne einer Organisationsdiagnose die Aufmerksamkeit auf potenziell relevante Entscheidungsfelder zu lenken. Mit der hier vorgestellten Perspektive rückt dann beispielsweise die Materialität der Organisation in den Blick und es kann deutlich werden, in welchem Ausmaß materiale Merkmale eine Rolle spielen, indem sich etwa vergangenes organisationales Lernen in konkreten Produkten (Dienstwegen, Formularen, Repositorien usw.) materialisiert und so Phänomene wie Pfadabhängigkeit (vgl. Schreyögg und Geiger 2016, S. 415) erklärbar und bearbeitbar macht.
Literatur
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Autor
Dr. Henning Pätzold, Professor für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Forschung und Entwicklung in Organisationen, Universität Koblenz-Landau.
Review
Dieser Beitrag wurde nach der qualitativen Prüfung durch das Peer-Review und die Redaktionskonferenz am 5. Mai 2022 zur Veröffentlichung angenommen.
This article was accepted for publication following a qualitative peer review and the editorial meeting on the 5th of May 2022.
In den Sozialwissenschaften gibt es inzwischen eine unüberschaubare Vielfalt von Organisationsbegriffen. Der vorliegende Beitrag versteht Organisation als Resultat des auf Dauer angelegten Zusammenschlusses von Menschen unter einer gemeinsamen Zielperspektive und unter Berücksichtigung bestimmter als relevant erachteter Regeln, insbesondere der Arbeitsteilung und der Mitgliedschaft. Gegenüber beinahe gleich lautenden Definitionen (z. B. Schreyögg & Geiger 2016, S. 9 f.; Göhlich 2010, S. 280) wird hier betont, dass nicht bereits der Zusammenschluss selbst als Organisation verstanden wird, sondern dasjenige, was hieraus emergiert.
Diesem allgemeinen Verständnis liegen sehr verschiedene philosophische Perspektiven auf den Subjektbegriff zugrunde, die hier nicht entfaltet werden können (vgl. zum Überblick Rucker et al. 2021 und Geimer et al. 2019).
Dabei fällt auf, dass diese Konstruktion strafrechtlich nicht anwendbar ist. Organisationen können Schadenersatz leisten, sie können auch zu „Strafzahlungen“ verurteilt werden, aber sie können nicht im eigentlichen Sinne bestraft werden, wie es etwa durch eine Gefängnisstrafe möglich ist.