1 Einleitung
Darf man feiern, in der Pandemie? Die Antwort muss wohl lauten: Ja, aber eben anders als sonst! Vor allem darf man sich feiern lassen! Das 75. Jubiläum des Bayerischen Volkshochschulverbandes mag vielleicht anders ausfallen als ursprünglich geplant. Als Vertreter einer Institution, deren wichtigstes Arbeitsmittel heuer ebenfalls 75 Jahre alt wird und die als Verfassungsgerichtshof selbst vor eben diesem Jubiläum im nächsten Jahr steht, sage ich: Es wäre jammerschade und eigentlich unverzeihlich, solche besonderen Fixpunkte in der Geschichte einer Institution oder der dahinterstehenden Idee sang- und klanglos verstreichen zu lassen, ohne die Chance der Selbstvergewisserung über die aktuelle Bedeutung der Institution und die fortwirkende Gültigkeit der Idee zu nutzen.
Und weil es immer auch Menschen sind, die als Repräsentantinnen und Repräsentanten die Institution und die Idee pflegen, gratuliere ich stellvertretend für alle Verantwortlichen des Verbands Ihnen, verehrte Frau Präsidentin Stamm, zu diesem Jubiläum. Es ist schön, dass ich bei der Geburtstagsfeier und Auftaktveranstaltung dabei sein darf!
Mir ist die Aufgabe gestellt, mit einem Impulsvortrag zum Thema der Podiumsdiskussion hinzuleiten: „Wunsch und Wirklichkeit. Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Volkshochschulen in Bayern“.
Erlauben Sie, dass ich mich als Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs mehr mit der verfassungsrechtlichen „Wunschvorstellung“ als mit der praktischen Umsetzung in der „Wirklichkeit“ beschäftigen möchte, einfach weil ich von dieser Praxis weniger weiß. Meine Ausführungen sollen aber keineswegs – wie man es Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtlern manchmal zu Unrecht unterstellt – abstrakt-theoretisch bleiben und sie sollten – so jedenfalls meine Wunschvorstellung – schon gar nicht langweilig sein! Ich möchte mich auch deshalb nicht auf die Darlegung der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Erwachsenenbildung beschränken, sondern aus der Verankerung der Volkshochschulen in der Bayerischen Verfassung auch ihre Bedeutung für eine demokratische Gesellschaft ableiten.
Verfassungsrechtliche Grundlagen der Erwachsenenbildung
Die bayerische Verfassung widmet der Erwachsenenbildung eine eigene Vorschrift. Artikel 139 lautet: „Die Erwachsenenbildung ist durch Volkshochschulen und sonstige mit öffentlichen Mitteln unterstützte Einrichtungen zu fördern.“
Die Verfassung erwähnt also die Volkshochschulen ausdrücklich neben den sonstigen mit öffentlichen Mitteln unterstützten Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Das ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Einmal, weil die Erwähnung der Erwachsenenbildung in einer Verfassung keineswegs selbstverständlich ist; ich komme gleich darauf zurück. Zum anderen ist bemerkenswert, dass die Volkshochschule eine der ganz wenigen in der bayerischen Verfassung namentlich und ganz konkret genannten nicht staatlichen Institutionen ist; andere Einrichtungen sind durchweg auf einem wesentlich höheren Abstraktionsniveau bezeichnet, wenn beispielsweise von „den Vereinen“ oder „den Selbstverwaltungsorganen der Wirtschaft“ die Rede ist.
Eine Bevorzugung gegenüber kirchlichen oder anderen Organisationen der Erwachsenenbildung liegt darin allerdings nicht. Vielmehr ist bereits im Wortlaut des Artikels 139 der Verfassung ein bindendes Bekenntnis zu einem pluralen System der Erwachsenenbildung enthalten, indem ausdrücklich auch die anderen Einrichtungen erwähnt werden. Mit der Hervorhebung der Volkshochschule macht der Verfassungsgeber aber deutlich, dass diese eben die „klassische“ Organisationsform der Erwachsenenbildung ist.
Das hat historische Gründe. Die Verfassung knüpft an die lange Tradition des Volksbildungswesens an, dessen Wurzeln mit den Volksbildungsvereinen bis in das 19. Jahrhundert zurückreichen. Übrigens, und weil sich dieser Hinweis hier in Erlangen natürlich anbietet: Markgraf Alexander von Brandenburg-Ansbach hat 1773 per Dekret das Institut der Moral und der schönen Wissenschaften ins Leben gerufen, das durch allgemeinbildende Vorträge und das Auslegen von moderner Literatur von manchen als eine Art Frühform der Volkshochschule gesehen wird. Ob dies für ein erneutes, diesmal 250-jähriges Jubiläum in zwei Jahren Anlass geben könnte, darf ich Ihrer Beurteilung überlassen.
Erstmalig in einer Verfassung erwähnt wurde die Erwachsenenbildung einschließlich der Volkshochschulen in der Weimarer Reichsverfassung von 1919. Artikel 148 Abs. 4 WRV lautete: „Das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden.“
In der Weimarer Republik avancierten die Volkshochschulen zu den bedeutendsten Institutionen der Erwachsenenbildung, wenngleich Bayern damals von diesem „Gründungsboom“ eher wenig erfasst wurde; hier existierte nämlich bereits eine große Zahl an „Volksbildungsvereinen“ verschiedener, insbesondere kirchlicher Träger.
Das änderte sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Als die bayerische Verfassung am 8. Dezember 1946 in Kraft trat, gab es in Bayern bereits 34 Volkshochschulen und Volksbildungswerke.
Im Entwurf einer bayerischen Verfassung war die Erwachsenenbildung zunächst als einer von mehreren Absätzen im späteren Artikel 128, dem „Recht auf Bildung“, vorgesehen. In den Beratungen des Verfassungsausschusses wurde sie dann aber auf Anregung von Professor Dr. Hans Nawiasky herausgelöst und in einem eigenständigen Artikel geregelt – eben im heutigen Artikel 139. Nawiasky darf neben Wilhelm Hoegner als der vielleicht wichtigste Vertreter der „Väter“ und – auch solche gab es ja – „Mütter“ der Verfassung angesehen werden.
Die Erwachsenenbildung ist heute in zahlreichen Landesverfassungen geregelt. Nur wenige erwähnen aber wie die bayerische Verfassung die Volkshochschulen als Teil der Erwachsenenbildung ausdrücklich.
Im Grundgesetz sind dagegen weder die Erwachsenenbildung im Allgemeinen noch die Volkshochschulen im Besonderen erwähnt. Dabei hat wohl eine Rolle gespielt, dass im Grundgesetz der Bildungsbereich ganz überwiegend den Ländern zugeordnet ist. Zum anderen hatte den Müttern und Vätern des Grundgesetzes gewiss noch die Zerschlagung der Weimarer Erwachsenenbildung und die nationalsozialistische Ausrichtung des Angebots in den Jahren von 1933 bis 1945 als Schreckgespenst eines zentralstaatlichen Missbrauchs der Erwachsenenbildung vor Augen gestanden.
2 Verfassungsrechtlicher Förderauftrag
Die ausdrückliche Erwähnung der Volkshochschulen und der anderen Einrichtungen der Erwachsenenbildung bedeutet zunächst einmal, dass sie neben der frühkindlichen Bildung, der Schule, der Hochschule und der beruflichen Aus- und Fortbildung als eigenständiger Teil des bayerischen Bildungswesens anerkannt werden. Damit begnügt sich die bayerische Verfassung aber nicht. Artikel 139 BV enthält auch einen ausdrücklichen Förderauftrag der öffentlichen Hand zugunsten der Erwachsenenbildung. Ein Bestandteil dieses Auftrags ist die Schaffung eines institutionellen Rahmens für die Erwachsenenbildung und ihre staatliche Unterstützung. Der bayerische Gesetzgeber hat diese einfachgesetzlichen Grundlagen mit dem novellierten Erwachsenenbildungsförderungsgesetz vom 31. Juli 2018 zuletzt neu gefasst.
Der Förderauftrag wird in der verfassungsrechtlichen Literatur nahezu einhellig als eine Staatszielbestimmung verstanden. Das bedeutet, diese Bestimmung ist hinsichtlich ihres Ziels – also der Förderung der Erwachsenenbildung – verbindlich, ohne dass damit aber die konkrete Art und Weise ihrer Umsetzung oder gar ein bestimmter finanzieller Förderumfang verbindlich vorgeschrieben werden.
Der Bayerische Verfassungsgerichtshof musste sich mit der Rechtsnatur dieser Bestimmung bisher nicht befassen. Aber vielleicht lässt sich allgemein sagen: Dieser Auftrag ist mehr als nur ein „unverbindlicher Wunsch“ der Verfassung, mehr als ein „nice to have“, wie man neudeutsch sagen würde. Volkshochschulen ebenso wie andere Institutionen der Erwachsenenbildung sind eben keine Luxusprojekte für gute Zeiten, sondern sie sind unverzichtbare Vermittlungsinstanzen für demokratische Ideen und Werte.
Der Förderauftrag der Verfassung richtet sich nicht nur an den Freistaat Bayern, sondern an sämtliche staatliche Gewalt, d. h. auch an die Kommunen. Das folgt auch aus einer weiteren Vorschrift der bayerischen Verfassung, die sich mit der Erwachsenenbildung beschäftigt. Artikel 83 Abs. 1 ordnet ausdrücklich auch die Erwachsenenbildung dem eigenen Wirkungskreis der Gemeinden, also dem kommunalen Selbstverwaltungsrecht zu.
In der Gemeindeordnung ist das einfachgesetzlich umgesetzt. Dort regelt Artikel 57 Abs. 1 Satz 1, dass die Gemeinden – ich zitiere verkürzt – „die öffentlichen Einrichtungen schaffen und erhalten, die nach den örtlichen Verhältnissen für das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wohl und die Förderung des Gemeinschaftslebens ihrer Einwohner erforderlich sind, insbesondere Einrichtungen […] des öffentlichen Unterrichts und der Erwachsenenbildung“. In allgemeiner Form findet sich eine solche Zuordnung auch in der Landkreisordnung.
Die Einrichtungen der Erwachsenenbildung in Bayern sind gemäß dem Verfassungsauftrag also staatlich zu fördern, aber sie werden in aller Regel nicht staatlich verantwortet oder getragen. Die bayerische Verfassung sieht Volkshochschulen vielmehr als Einrichtungen an, die für die Bürgerinnen und Bürger vor Ort da sein, die identitätsstiftend wirken und sich durch eine starke Verankerung in der Gesellschaft auszeichnen sollen. Die Volkshochschule ist damit nicht nur ein Ort der Bildung, sondern auch ein Ort der Begegnung und damit ein wichtiger Teil des Gemeinschaftslebens. Dass davon übrigens auch die bayerische Verfassung ausgeht, ist am Standort des Artikels 139 erkennbar. Man findet ihn im Dritten Hauptteil der Verfassung – dieser heißt: „Das Gemeinschaftsleben“.
3 Bedeutung der Volkshochschulen für eine demokratische Gesellschaft
Lassen Sie mich ausgehend von dieser im doppelten Sinn gemeinten verfassungsrechtlichen „Standortbestimmung“ einige Aufgaben der Erwachsenenbildung für unsere Gesellschaft ableiten:
Öffentlicher Bildungsauftrag
Volkshochschulen erfüllen ebenso wie die anderen Einrichtungen einen öffentlichen Bildungsauftrag und ermöglichen allen Bürgerinnen und Bürgern ein „lebenslanges Lernen“.
Vor 40 oder 50 Jahren konnte man es sich noch einfach machen und mit Robert Lembke feststellen: „Die älteste Form der Erwachsenenbildung sind Kinder, die eine höhere Schule besuchen“.
Damit ist es aber in unserer stetig komplexer werdenden Welt schon längst nicht mehr getan. Besonders spürbar ist das in der betrieblichen und abschlussbezogenen beruflichen Weiterbildung. Nach einer Studie des MIT müssen neun von zehn Mitarbeitenden in technischen Berufen mindestens einmal jährlich ihre Fertigkeiten auf einen neuen Stand bringen, fast die Hälfte sogar noch häufiger und kontinuierlich. Nicht ohne Grund hat die TU München kürzlich ein eigenes Institut für lebenslanges Lernen gegründet. Aber auch sonst werden in nahezu allen Bereichen des Lebens heute Fähigkeiten und Kenntnisse verlangt, die in der Schulbildung und der berufsbezogenen Grundbildung bei vielen Menschen noch keine Rolle gespielt haben. Es ist daher wichtig, dass das Bildungsangebot der Volkshochschulen breit gefächert ist und persönliche, gesellschaftliche, politische und berufliche Bereiche gleichermaßen umfasst. Dabei können sich die Volkshochschulen sehr schnell auf neue gesellschaftliche Entwicklungen einstellen und den Bürgerinnen und Bürgern über ihr gesamtes Erwachsenenleben hinweg ein Bildungsangebot machen.
Denken Sie an die Digitalisierung. Ich selbst verbringe in der Pandemie einen nicht unerheblichen Teil meiner Arbeitszeit mit Videokonferenzen – kein Mensch hat noch vor einem guten Jahr daran gedacht, dass dies heute ein alltägliches Arbeitsmittel sein wird. Und so wie mir geht es vielen anderen Berufstätigen ebenso wie Schülern und Studentinnen. Selbst Besuche der Enkelkinder können in der Pandemie oft nur virtuell stattfinden. Aber natürlich geht es nicht nur um die computertechnischen Fähigkeiten der Einzelnen, sondern auch um Fragen des gesellschaftlichen Umgangs mit den Phänomenen der IT-Welt: Wenn wir über nachhaltige und gemeinwohlorientierte Digitalisierung diskutieren wollen, braucht es ein Grundverständnis dafür, welches Veränderungspotenzial sie im täglichen Leben besitzt, welche soziale und politische Dimension Algorithmen haben, wie das riesige Reservoir an im Netz kreisenden Daten als Mehrwert für die Gesellschaft genutzt werden kann, statt sie der Ausbeutung durch wenige Konzerne zu überlassen.
Auch die Globalisierung erfordert von vielen die Bereitschaft zur Weiterbildung, anderen ermöglicht sie erst eine angemessene Grundbildung. Es verwundert nicht, dass der Bereich Sprachen und Fremdsprachen einer der am häufigsten nachgefragten Themenbereiche in der Erwachsenenbildung ist. Den einen geht es darum, durch das Erlernen von Fremdsprachen ihre beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten zu verbessern, andere wollen sich auf einen Auslandsaufenthalt oder einfach nur die nächste Urlaubsreise vorbereiten. Und für viele zugewanderte Menschen sind die Volkshochschulen mit ihrem Angebot an Integrationskursen ein unverzichtbarer Teil des „Ankommens“ in Deutschland.
Die Volkshochschulen gewährleisten in diesen und vielen weiteren Bereichen ein einfach zu erreichendes Bildungsangebot unabhängig vom Alter, der Herkunft und – was besonders wichtig ist – dem Bildungsstand. Diese gleichberechtigte Chance auf Bildung auch im Erwachsenenalter, lässt Menschen an Entwicklungen teilhaben und ist damit eine wichtige Zukunftsvoraussetzung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Ungleichheit in der Teilhabe am wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen Leben zersetzt die Gemeinschaft. Deshalb gehört der Leitsatz: „Wir wollen niemanden zurücklassen“ („to leave no one behind“), mit Recht zur DNA der Erwachsenenbildung. Das beginnt schon damit, dass die staatliche Förderung vor allem auch die Bezahlbarkeit der Angebote für die Einzelnen sicherstellt. Um nur ein kleines Beispiel aus dem Bereich Qualitätssicherung zu nennen: Für ein Seminar zum Thema „Patientensicherheit“ mit Onlineforum und Präsenztagen werden bei einem kommerziellen Anbieter einige Tausend Euro fällig; ohne dass ich konkrete Angebote vergleichen will und kann, zeigt schon ein kurzer Überblick, dass es jedenfalls zu Teilaspekten dieses Themas zahlreiche Programmangebote von Volkshochschulen zum Nulltarif oder deutlich günstigeren Tarifen gibt.
Dass es sich bei der Erwachsenenbildung durch Volkshochschulen und andere Träger gewissermaßen um Infrastrukturprojekte im gesamtgesellschaftlichen Interesse handelt, zeigt sich auch anhand zweier weiterer Aspekte, die auch Schnittstellen zur bayerischen Verfassung aufweisen: Das im Erwachsenenbildungsförderungsgesetz ausdrücklich genannte Förderziel der ortsnahen Angebote dient der Förderung und Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Bayern, wie es Artikel 3 Abs. 2 Satz 2 BV vorgibt. Und soweit die Unterstützung des haupt- und ehrenamtlichen Bildungseinsatzes als Förderziel der Erwachsenenbildung vorgegeben ist, steht dies im Einklang mit Artikel 121 BV, der Staat und Gemeinden zur Förderung des Einsatzes des Ehrenamts für das Gemeinwohl verpflichtet.
4 „Lebendige Werkstätten“ der Demokratie
Unsere Verfassung leugnet nicht die große Bedeutung von Wissen und Können. Ohne Kenntnisse, ohne Fertigkeiten, ohne praktische Fähigkeiten wird sich niemand den Herausforderungen des Lebens stellen können. Darin erschöpft sich aber Bildung nicht. Etwas salopp formuliert: Man sagt ja, Bildung ist das, was übrigbleibt, wenn wir vergessen, was wir gelernt haben. Damit meine ich Bildung in einem weiteren, ganzheitlichen Sinn, die Grundfähigkeiten zur Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben und zur Befassung mit öffentlichen Angelegenheiten als selbstbestimmte, mündige Bürgerinnen und Bürger einschließt. Volkshochschulen sind eben auch „lebendige Werkstätten“ der Demokratie. Das klingt bereits im Thema für den Nachmittagsteil der heutigen Veranstaltung an: „Bildung für die Demokratie der Zukunft.“
Eine Demokratie ist auf mündige, selbstbestimmte Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Die Wahrnehmung demokratischer Rechte erfordert die Fähigkeit und den Willen der Menschen zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen sowie die Fähigkeit, Informationen einzuordnen und kritisch zu analysieren.
Das gilt in einem besonderen Maß für eine durch repräsentative und plebiszitäre Elemente geprägte Demokratie. Bayern ist, so heißt es in Artikel 2 Abs. 1 der Verfassung, „ein Volksstaat“, und das Volk ist „Träger der Staatsgewalt“. Die Legitimation aller Staatsgewalt beruht auf der Volkssouveränität. Artikel 2 verkörpert das allgemeine Demokratieprinzip.
Die bayerische Verfassung stellt sogar die Parlamentsgesetzgebung und die Volksgesetzgebung gleichwertig nebeneinander: „Die Gesetze werden“, so heißt es in Artikel 72 Abs. 1, „vom Landtag oder vom Volk (Volksentscheid) beschlossen“.
Insofern begegnet die bayerische Verfassung – auf Landesebene – der unmittelbaren Demokratie mit etwas weniger Skepsis als das Grundgesetz und bringt ihr vielmehr eine hohe Wertschätzung entgegen.
Damit gehört die Volksgesetzgebung im weiteren Sinne – also einschließlich der Bürgerentscheide im kommunalen Bereich – in meinen Augen zu den Elementen mit großer integrativer Kraft für die Gesellschaft. Sie hat das Potenzial, viele Bürgerinnen und Bürger hinter einer Idee zu versammeln und ihnen damit zugleich das Gefühl zu vermitteln, selbst unmittelbar gestaltend auf die Politik einzuwirken. Das ist nicht wenig in einer Zeit, in der Staatsverdrossenheit und Politikferne zunehmen und in der bei vielen der Eindruck herrscht, „die da oben“ seien an dem, was die Menschen bewegt, ohnehin nicht interessiert. Gerade deswegen gilt es immer wieder, das Systemverständnis für politische Mechanismen in Staat und Gesellschaft, aber auch das Bewusstsein für die eigenen Wirkungsmöglichkeiten politischer Mitgestaltung insbesondere auch im kommunalen Bereich zu stärken. Es wäre deswegen sehr zu wünschen, wenn der Themenbereich Gesellschaft, Politik und Wirtschaft in der Nachfragestatistik der Erwachsenenbildung künftig noch deutlich zulegt.
5 Vermittlung faktenbasierter Erkenntnis
Gegenstand und Entscheidungsgrundlage der Politik muss stets die Wirklichkeit sein. Umso wichtiger ist es, als Grundlage politischer Meinungsbildung eine objektive und faktenbasierte Erkenntnisvermittlung zu fördern und den Menschen dafür geeignete Angebote zu machen, beginnend mit der schulischen Bildung der jungen Generation bis hin zur Weiterbildung der Erwachsenen.
In der Vergangenheit haben auch klassische Medien wie die Presse oder das Fernsehen wesentlich dazu beigetragen, den Bürgerinnen und Bürgern die notwendigen Informationen für ihre Entscheidungen zu liefern und auch mögliche Bewertungen der Vorgänge aufzuzeigen. Doch nicht wenige Menschen misstrauen heute den traditionellen Medien fundamental und verlassen sich – auch weil es schnell und einfach verfügbar ist – auf das, was sie in sozialen Netzwerken und im Internet lesen. Dies befördert das Entstehen einer Medienwelt, in der sich Fakten zunehmend auflösen. Wir alle kennen Beispiele im In- und Ausland dafür, wohin es führt, wenn faktenbasierte Bildung und Erkenntnisse zugrunde gehen und durch Fake News ersetzt werden.
Noch gefährlicher sind womöglich Halbwahrheiten, wie die Germanistin Nicola Gess jüngst in einer Studie gezeigt hat. Sie vermitteln in ihrer geraunten Anekdotenhaftigkeit gefühlte Wahrheit und kalkulieren mit den Ängsten und Hoffnungen der Rezipientinnen und Rezipienten, auch dem Bedürfnis nach Vereinfachung einer undurchschaubaren, bedrohlichen Lage.
Die Coronapandemie wirkt hier, das befürchte ich jedenfalls, als eine Verstärkung dieser Entwicklung. Verschwörungstheorien, etwa über eine angebliche Erfindung des Coronavirus durch Bill Gates, schaffen es, über das Internet in kurzer Zeit viele Anhängerinnen und Anhänger zu gewinnen. Nicht wenige Menschen folgen solchen Verschwörungstheorien, weil sie eine vermeintlich einfache Erklärung für komplexe Ursachen und Zusammenhänge präsentieren, so absurd sie auch klingen mögen. Und es ist längst bekannt, dass staatliche Bot-Armeen und Trollfabriken sich für Desinformationskampagnen im Hinblick auf die bevorstehende Bundestagswahl rüsten.
Was hilft in dieser Lage, auch damit soziale Medien nicht zur Achillesferse der Demokratie werden? Faktencheck, Medienkompetenz und eben auch: Allgemeinbildung. Je besser die Bürgerinnen und Bürger in der Lage sind, politische, wirtschaftliche, rechtliche und auch technisch-naturwissenschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, einzuordnen und abzuwägen, desto fundierter treffen sie auch Entscheidungen bei Abstimmungen und Wahlen. Nur wer gelernt hat, Kontroverses nach Tatsachen und Wertungen zu unterscheiden, Ziele und Interessen zu erkennen und mit politischer Urteilskraft zu entscheiden, nur der kann auch von seinen Grundrechten Gebrauch machen.
Selbstverständlich unterliegt gerade die staatsbürgerliche und politische Bildung dabei selbst den Bedingungen moderner Demokratie. Das setzt die Freiheit der Bildungsangebote, insbesondere die Freiheit vor Indoktrination, und einen offenen Diskurs voraus. Wer gegen die Feinde einer offenen Gesellschaft eintritt, muss dies mit demokratischen Mitteln tun.
6 Plurales Bildungsangebot
Volkshochschulen schaffen ein plurales Bildungsangebot. Sie bieten allen Bürgerinnen und Bürgern die einfache und kostengünstige Möglichkeit zur Bildung und damit gesellschaftlichen Teilhabe. Volkshochschulen richten ein Angebot an alle – unabhängig von Alter, Herkunft, Glaube oder Bildungsstand. Und ebenso vielfältig ist der Kreis derjenigen, die in den Volkshochschulkursen als Kursleiter die Lehrinhalte „von Bürgerin zu Bürger“ vermitteln. Damit leisten die Einrichtungen einen wichtigen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit, zur Integration, zur Orientierung vieler Menschen und damit auch zur Zukunftssicherung von Staat und Gesellschaft.
7 Schluss
Und hier schließt sich der Kreis zum eingangs skizzierten Verfassungsauftrag aus Artikel 139: Volkshochschulen sind ein wichtiger Bestandteil des Gemeinschaftslebens und bedürfen als Teil einer den Staat und die Gesellschaft stützenden Bildungsinfrastruktur einer nachhaltigen Förderung.
Besonders in einer Zeit, in der die Auswirkungen der Coronapandemie die öffentlichen Haushalte voraussichtlich über viele Jahre hinweg belasten werden, ist es mir ein Anliegen, das zu betonen.
Autor
Peter Küspert, bis September 2021 Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs und des Oberlandesgerichts München.
Review
Dieser Beitrag wurde nach der qualitativen Prüfung durch die Redaktionskonferenz am 11.11.2021 zur Veröffentlichung angenommen.
This article was accepted for publication following the editorial meeting on the 11th of November 2021.